Wie es begann
 


Wenn man in den Fünfziger Jahren geboren ist, in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und des radioaktiven Fallout, in der Zeit in der den Erwachsenen immer noch Begriffe wie VERGASEN und ARBEITSLAGER mit einer erschreckenden Leichtigkeit über die Lippen kamen, lebte man mit einer unausgesprochenen Bedrohung, die nicht zu fassen und nicht zu erklären war, aber alle Menschen dieser Zeit im Deutschland nach dem verlorenen Krieg gleichermaßen betraf, wobei sich die meisten dieser Bedrohung in keiner Weise bewusst waren.
Neben dieser Bedrohung, die alle betraf, gab es, wie wahrscheinlich seit Jahrtausenden unverändert, die Bedrohung, mit der Kinder zu leben hatten, weil die Erwachsenenwelt sie ihre Macht spüren ließ, die in körperlicher Überlegenheit und einem unbegreiflichen Wissensvorsprung begründet war, es waren die letzten Jahre vor 1968.
Und dann war da noch meine eigene persönliche Bedrohung, die nur mich betraf, diese Bedrohung, deren wechselnde Szenarien immer wieder von meinen Eltern und anderen Erwachsenen beschworen wurden; der Schwarze Mann, die Hand, die aus dem Wasser kam, der Nikolaus und sein Knecht Ruprecht mit der Rute und die ganz persönlichen Bedrohungsszenarien, die mit dem Tod meiner Mutter zu tun hatten, weil sie mich nicht wollte und den daraus folgenden Handlungen meines Vaters, der mich auch nie gewollt hatte.
Meine Mutter konnte sich nie damit abfinden, mich mit vierzig Jahren bekommen zu haben, zu einem Zeitpunkt, als meine Eltern sich bereits kurz zuvor damit abgefunden hatten, das Haus, in dem wir wohnten, durch die Geschwister meines Vaters unter dem Hintern weg verkauft bekommen zu haben.
Na ja...
Und irgendwann weiß man, dass es da Männer und Frauen gibt.
Mit dieser Bedrohung oder diesen Bedrohungen beschäftigt dauerte es lange, bis man sich auf den Unterschied konzentrieren konnte, diesen Unterschied, der sich darin manifestierte, dass es da Menschen gab, die lieber mit Puppen spielten, als mit Autos.
Und irgendwann realisiert man, dass auch Mädchen Frauen werden und dass man selbst irgendwann ein Mann sein wird.
Interessant.
Nur was sollte das alles für einen Sinn haben?
Warum gab es diese beiden höchst unterschiedlichen Arten von Menschen?
Was sollte es für einen Vorteil haben, Frau zu sein?
Alle Fragen wurden wie üblich beantwortet.
Du bist zu jung!
Du wirst es schon erfahren!
Das musst du nicht wissen!
Warum willst du das wissen?

Besonders die Gegenfragen waren geeignet, einem das Gefühl zu vermitteln, sich auf vermintes Terrain begeben zu haben.
Vermintes Terrain bedeutete immer, es mit unberechenbaren Erwachsenen zu tun zu haben, die, wenn sie auf Fragen keine Antworten wussten, zu Gewaltausbrüchen neigten.
Wen wundert es da, bezüglich dieser Neugier dann nur noch Leute zu fragen, die vielleicht etwas mehr wussten, oder aufgrund ihrer zu erwartenden Anatomie zum anderen Geschlecht gehörten und daher zwangsläufig über andere Informationen verfügen mussten.
Also gab es zum Informationsaustausch nur meine Cousine Irene, die in meinem Alter war. Fataler Weise waren alle anderen Vettern und Cousinen so viel älter als wir, dass sie ebenso erwachsen wie unsere Eltern als Informanten nicht mehr in Frage kamen.
Komisch.
Wenn ich jemals erwachsen sein sollte, würde ich sicher nicht zu diesen Leuten gehören, die gegenüber Jüngeren etwas verheimlichten.
Meine Cousine Christa, auch sie gehörte zu den Erwachsenen, arbeitete in einem Geschäft für Tafeln, Griffel, Schulhefte, Füller, wie wir damals Füllfederhalter nannten und andere Schreibwaren.
Dieses Geschäft wurde von einem Herrn Schulte betrieben und dieser Herr Schulte war für einen erwachsenen Mann erstaunlich klein. Ich stellte mir vor, wie klein, nämlich kleiner als er, seine Frau, also Frau Schulte sein musste, denn Frauen waren aus irgend welchen Gründen kleiner als Männer.
Zur Zeit meiner Kindheit waren Frauen immer kleiner, als Männer; oder besser ausgedrückt, Männer waren immer größßer als die dazu gehörenden Frauen.
An diesem Punkt der Überlegung ist zu erkennen, dass ich realisiert hatte, Männer und Frauen lebten zusammen, wie meine Eltern, alle Tanten und Onkel und die Eltern der Kinder, die ich bis dahin getroffen hatte. Daher war es für mich undenkbar, dass das bei Herrn Schulte anders sein sollte.
Und Herr Schulte, der ein sehr netter Mensch war, das bestätigte sogar meine Cousine Christa, die immerhin bei ihm arbeitete, hatte da etwas am Rücken. Wenn er sich drehte, sah es so aus, als habe er einen Rucksack unter der Anzugjacke.
Hatte ich erwähnt, dass Männer Anzüge trugen und Frauen Kleider?
Dieser Umstand war, neben der Länge der Haare, beziehungsweise der Frisur und der Höhe der Stimme, ein wichtiges Merkmal, um Frauen von Männern zu unterscheiden.
Ja und Dank Herrn Schulte, man hatte mir erzählt, er habe einen Buckel auf dem Rücken, über den man aber nicht rede, das heißt, man sollte immer so tun, als habe er diesen Buckel nicht, oder man würde ihn nicht sehen, wusste ich dann, dass Frauen einen Buckel vorne hatten.
Und man sollte so tun, als hätten sie diesen Buckel nicht und ich würde ihn nicht sehen, diesen Buckel.
Jahrelang gab ich mich mit dieser Überlegung zufrieden.
Als ich eines Tages mit Irene zum Klo ging, heute wundert es mich, dass uns da niemand dran gehindert hat, tauschten wir uns, wie so oft, bezüglich des Vorteils unterschiedlicher Anatomie aus.
Also fragte ich Irene, ob sie mittlerweile herausbekommen habe, was da für ein Buckel bei unseren Müttern vorne unter dem Pullover wäre.
Sie sagte, das wäre wohl total geheim und ich dürfte da mit keinem drüber reden, aber sie habe mit bekommen, dass es eigentlich zwei Buckel wären und dass der Pullover dazwischen gespannt werde, so dass man meinen könne, es wäre nur einer. Ich sollte doch 'mal im Quelle Katalog nachsehen, weiter vorne, nicht beim Spielzeug. Sie habe sich da auch informiert.
Raffiniert!
Es war nicht das erste Mal, dass ich mit Verwunderung feststellen musste, dass Irene einen Wissensvorsprung hatte.
Einen Quelle Katalog hatten wir auch.
Es war völlig unverfänglich, wenn ich mir die Seiten mit den Spielsachen ansah, denn immer wenn Weihnachten oder mein Geburtstag nahten, wurde ich anhand des Kataloges befragt, was ich denn haben wolle.
Unauffällig blätterte ich weiter nach vorne.
Unauffällig und vorsichtig.
Mir war klar, dass es eine Menge Ärger geben würde, wenn meine Mutter mein Interesse bemerkte, denn es war ja genau so ein Tabu, wie der Buckel des Herrn Schulte.
Wahrscheinlich hätte man mich dann in ein Heim gegeben oder den Zigeunern geschenkt.
Immer wenn Zigeuner in der Stadt waren, hatte ich Angst denen mitgegeben zu werden, in die Ungewissheit...
Ja, die Angst war eigentlich nur die Angst vor dem Unbekannten. Sie war diffus und unterschied sich daher wahrscheinlich nicht sehr von der Angst, die ich sowieso hatte, diese Angst, die eine ständig im Hintergrund lauernde Bedrohung war, gegen die man nichts tun konnte, als irrationalen ständig wechselnden Maßstäben gerecht zu werden, wie sie die Erwachsenen immer wieder neu definierten.
Im Katalog gab es tatsächlich zwei Buckel.
Die Frauen trugen natürlich Unterwäsche.
Erwachsene waren nie nackt, vielleicht diesen kurzen Moment wenn sie Unterwäsche gegen Badebekleidung tauschten, aber sonst waren sie immer und zu jeder Zeit angezogen.
Ich blätterte zur Badebekleidung.
Tatsächlich gab es da auch Badeanzüge, bei denen man erkennen konnte, dass es da zwei Buckel geben musste.
Interessant!
Hatten manche Frauen einen Buckel und andere zwei?
Bei den Kamelen gab es ja auch Dromedare mit nur einem und Trampeltiere mit zwei Höckern.
Irgendwann im Freibad entdeckte ich, dass es da tatsächlich Frauen gab, bei denen man, wenn man heimlich genau hinsah, zwei Buckel identifizieren konnte.
Von Irene, die ja fast täglich in diesem Freibad war, einen Badeanzug trug, obwohl sie sich oben herum in keiner Weise von mir unterschied, der ich eine Badehose trug, erfuhr ich, dass es erstrebenswert war, so viel Haut wie möglich in der Sonne braun werden zu lassen.
Mein Vorschlag, doch ebenso wie ich, eine Badehose zu tragen kam bei ihr nicht gut an.
Ihre Mutter bestehe darauf, dass sie einen Badeanzug anziehe, sie habe auch schon den Vorschlag gemacht, denn oben herum gäbe es ja wohl wirklich keinen Unterschied.
Wir überlegten dann natürlich noch, was denn unten rum so dringend bedeckt werden müsse.
Mein Zipfel konnte es ja wohl nicht sein, denn dann hätte Irene ja zumindest unten ohne gehen können.
Also konnte es nur der Hintern sein, aber der sah bei allen Menschen gleich aus, so hatte ich gehört und immer dann, wenn ein Lehrer jemandem den nackten Hintern verprügelte war es auch so gewesen, also schied der Hintern doch wohl aus.
Außerdem hätte da ja wohl keiner drauf herum geprügelt, wenn er so eine Tabuzone wäre.
Blieb der Zipfel.
Irene hatte keinen.
Aber das war mir ja bekannt.
Vielleicht war es anderen nicht bekannt, vielleicht gehörte ich zu den wenigen Eingeweihten, die wussten, dass es Menschen mit Zipfel gab und welche ohne.
Irene meinte, dass sie sich das nicht vorstellen könne, weil ja die meisten Leute Brüder und Schwestern hätten und so erfahren könnten, dass Schwestern keinen Zipfel hatten.

Das klang logisch.
Aber warum hatten dann Frauen nicht einfach nur oben rum Badekleidung an, wenn es doch so erstrebenswert war, fast überall braun zu werden und die Hose nur wegen des Zipfels nötig war?
Komisch!

Wen sollte man da fragen?
Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn alle Männer mit Hosen im Freibad wären und alle Frauen mit irgendwas oben herum, um die Buckel zu bedecken.
Immerhin war das logisch.
Bei uns war oben rum nichts, also brauchte man nur eine Badehose, weil unten herum der Zipfel war und bei Frauen war unten rum nichts und nur oben rum die Buckel.

Aber warum hatte das noch Niemand bemerkt?

Es gibt da also einen nicht unwesentlichen Teil des Menschseins, der findet zwischen dem Jugulum und der Mitte der Oberschenkel statt, zwischen Jugulum und der Mitte der Oberschenkel der Frau.
Jugulum, Fossa jugularis (lat.) oder auch Drosselgrube bezeichnet die Grube zwischen den beiden Schlüsselbeinen, die nach unten durch den Oberrand des Brustbeins begrenzt wird.
Für mich ist Frau gerade aufgrund der großen Oberfläche dessen, was mich interessiert, ein nicht enden wollendes Faszinosum.
Wenn man sich nun diesem Bereich des Seins widmet, stellt man schnell fest, dass die von mir bevorzugte Gewichtung in der Regel von Frauen nicht geteilt wird.
Das Interesse der Frauen ist nur kurzzeitig auf den Sexualkontakt gerichtet, genau so lange, bis das Ergebnis der Reproduktion sich einstellt. Das Interesse vieler Frauen ist letztlich die Aufzucht.
Bei mir gab es Ereignisse in der Kindheit und Jugend, die mich in einer Weise prägten, dass ich heute ganz genau nachvollziehen kann, woher meine sexuellen Vorlieben kommen.