Links zu Texten des selben Autors: An Archie, Der erste Tag der Jagd, Bambule Roadmovie, Löcher in der Welt, Metromania, Bewegung im Raum

Dieser Text wurde 1985 begonnen und hat sicher, angesichts von AIDS und BSE, nichts an Aktualität eingebüßt. Der Autor hat ihn unseres Wissens nach noch nicht ganz fertig gestellt.

BABYPORT



Ein Ende ist immer ein neuer Anfang.

Die Gefahr geht innerhalb anarchistischer Gesellschaftsstrukturen nie - und ich betone nie - von Anarchisten aus, sondern immer nur von Einzelpersonen oder Gruppen, die bestrebt sind, den Zustand der Anarchie zu widerrufen, um sich selbst in Machtpositionen gegenüber anderen zu bringen.

Wer wirklich für die Anarchie ist, ist auch gleichzeitig gegen Machtausübung, egal durch wen.







Prolog

Vier Monate vor dem Beginn des Endes.
Ein unbeteiligter Beobachter hätte gestaunt, als Anslinger grinsend das Funkgerät fortlegte, seinen Ford Bronco verließ und der hoch am Himmel stehenden Sonne den Rücken zukehrte.
Aber, und das ist völlig sicher, einen unbeteiligten Beobachter gab es nicht.
Anslinger konnte nun sicher sein, dass der nächste Wagen, den er in dieser bizarren Landschaft sehen würde, der Wagen sein würde, auf den er schon mehrere Stunden gewartet hatte.
Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, die er dann mit einer entschiedenen Bewegung zu Boden warf und zertrat bevor er überhaupt nach seinem Feuerzeug gegriffen hatte.
Verächtlich grinsend dachte er an das, was er in Vegas tun würde, wenn der Rest des Geldes in seinen Händen war.
Eigentlich schade, dass er ausgerechnet an einem Tag wie diesem seinem Auftrag nachkommen musste. Viel lieber hätte er beim letzten Drugstore, an dem er vorbeigekommen war, die luftig gekleidete Tramperin mitgenommen, die ihn angesprochen hatte - in so einer einsamen Gegend hätte sie sicher nicht gewagt, nein zu sagen.
Er öffnete die unverschlossene Heckklappe des Geländewagens und nahm vier auffällige weiße Ringe heraus, ganz normale Autoreifen der Marke Firestone, die ihre Schläuche mit mäßigem Luftdruck enthielten und mit einigen Hundertmetern Verbandmull umwickelt worden waren.
Heidenarbeit.
Er band die präparierten Reifen als Flankenschutz an die Seite seines Wagens, wie man es von Barkassen her kannte.
Eigentlich konnte er diese Schmierfinken - er hielt alle Journalisten und anderen Schreiberlinge dafür - nicht leiden, hatte sie noch nie leiden können und war froh, dass es bald einen weniger geben würde.
Wie konnte so ein Dreckskerl auch dem CIA vorwerfen, das Teufelszeug stamme aus den Labors der Regierung und sei im Auftrage des Vatikans produziert worden?
Als er die Geräusche eines sich nähernden Autos hörte, saß er bereits hinter dem Lenkrad seines Broncos.
Er fuhr los und ließ seinen Wagen betont langsam die Serpentinenstrecke hochkriechen.
Als er dann den anderen Wagen im Innenspiegel sah, machte er eine angenehme Entdeckung.
Die Tramperin, die am Drugstore auf eine Mitfahrgelegenheit gewartet hatte, saß neben dem Schmierfinken.
So eine Scheiße!
Andererseits konnte man natürlich den Unfall auch durch ihre Anwesenheit zu erklären versuchen, warum nicht.
War sicher sowieso nur so eine billige Hure, wie alle, die so rumliefen.
Anslinger konnte Frauen die trampten noch nie leiden, hatte sie aber immer mitgenommen, vorausgesetzt, die Strecke war einsam genug. Nun man sollte die Gelegenheiten nutzen, wie sie sich boten - wie sie sich anboten.
War nicht schade um diese Schlampe!
Anslinger fuhr betont langsam und zu weit in der Mitte der Fahrbahn.
Mit Genugtuung sah er im Spiegel, dass der Wagen dieses Schmierfinken immer hin- und herpendelte, um auf eine Gelegenheit zu lauern, ihn zu überholen.
Dieses Spiel machte ihm Freude.
Oh, er konnte solche Spiele ausdehnen, er konnte lange spielen und sich an seinem Sieg ergötzen.
Und er hatte immer gesiegt, immer.
War er es nicht, der den Sieg schon in der Tasche hatte?
Anslinger hatte sich die Stelle gut ausgesucht, er war gründlich, ordentlich, zuverlässig und katholisch.
An einer Stelle, an der der Abgrund neben der Strasse besonders tief und bodenlos war, fuhr er weit nach links, um dem Journalisten Gelegenheit zum Überholen zu geben.
Anslinger fuhr so weit links, wie die Gesinnung des Schmierfinken in Anslingers Augen war.
Als der Journalist Gas gab, um Anslingers Bronco zu überholen manifestierte sich ein breites Grinsen in Anslingers Gesicht, das Grinsen des Sieges.
Mit einem Ruck riss Anslinger das Lenkrad herum - genau im richtigen Moment - die umwickelten Reifen an der rechten Seite des Bronco berührten den Wagen des Journalisten, der verzweifelt gegenlenkte.
Es war kein großer Akt, den kleineren und leichteren Wagen von der Strasse zu drängen, der Abgrund war gut gewählt, das wusste Anslinger ganz genau, das wusste er immer genau.
Anslinger war eben Profi.
Anslinger stoppte den Bronco, ließ den Motor laufen und stieg aus.
Zunächst löste er die vier Reifen von der Flanke des Wagens - es waren keine Spuren der Berührung mit dem anderen Fahrzeug sichtbar - dann warf er sie hinten auf die geschlossene Ladefläche. Erst als er die Heckklappe wieder geschlossen hatte, wandte er sich dem Abgrund zu.
Der Wagen hatte sich überschlagen und lag reichlich lädiert etwa zwanzig Meter unter ihm, diese letzten zwanzig Meter musste er gerollt sein.
Anslinger machte immer ganze Arbeit, so auch dieses Mal.
Er kletterte den Abhang hinab, um sich vom Ableben des Schmierfinken und seiner Nutte zu überzeugen.
Den Journalisten fand er schnell im Wagen, dem konnte keiner mehr helfen, aber wo war die Nutte geblieben?
Eines zumindest war sicher, wenn sie noch lebte, konnte sie nicht weit gekommen sein, nach einem solchen Unfall.
Er suchte systematisch die Umgebung ab und hatte sie schon bald gefunden, sie lag in einer Senke nahe des unbrauchbar gewordenen Wagens.
Sie lag auf dem Rücken und Anslinger konnte deutlich erkennen, dass sich ihr Brustkorb langsam hob und senkte.
Als er näher kam, drang ein gequältes Stöhnen an seine Ohren.
Der konnte geholfen werden.
Mit groben Griffen riss er ihr die Jeans vom Leibe.
Zufrieden stellte er fest, dass er doch noch zu seinem Vergnügen kommen sollte, öffnete seine Hose und ging ans Werk.
Nach kurzer Zeit, Anslinger war gerade fertig, stellte er fest, dass die junge Frau das Atmen eingestellt hatte.
Zufrieden, mit sich, Gott und der Welt machte sich Anslinger wieder an den Aufstieg. Schon abends wollte er in Vegas sein und die Sau rauslassen.
Kurz bevor er sich auf die Strasse zog hörte er, dass das Motorengeräusch seines Broncos verstummt war. Verärgert richtete Anslinger sich auf und konnte gerade noch den Stiefel sehen, der ihn voll ins Gesicht traf.
Mit einem erstickten Schrei stürzte Anslinger den Abhang hinab und schlug mehrmals mit dem Kopf gegen die Steine des felsigen Bodens.
Das war wohl Anslingers letzter Auftrag gewesen.
Ungerührt blickte der Mann in den Stiefeln Anslinger nach und griff nach dem Funkgerät, das zuvor Anslinger benutzt hatte.
Alles was er tat, war perfekt, er war cool und würde es bleiben, bis zu seinem unerwarteten Ende.
Er drückte die Sendetaste.
"Sagt Carola, der Drachen kann steigen!"
Mit einer entschiedenen Bewegung schob er die Teleskopantenne ein, setzte sich in den Bronco und fuhr los, Richtung Vegas.
Er hatte sich eine Abwechslung verdient, hatte er doch die letzten Tage in einem billigen Zelt gehaust und auf seinen Einsatz gewartet.
Souverän lenkte er den Bronco den Weg zurück, den er zuvor mit Anslinger gekommen war.
Dieser Anslinger war doch wirklich nichts weiter, als einer dieser Killer, die sich für einen Profi hielten. Gut, er war zwar kein schlechtes Werkzeug gewesen, aber immer noch gut genug für einen billigen Job.
Was allerdings völlig klar war, und dass hätte Anslinger niemals wahrhaben wollen, er war mindestens zwei Nummern zu klein, für die Organisation, für die er bei seinem letzten Auftrag gearbeitet hatte.
Der Mann mit den Stiefeln fuhr munter pfeifend an dem Drugstore vorbei, an dem der Journalist die Biene aufgerissen hatte.
Der Hubschrauber kreuzte auf seinem Flug den Highway mit dem Bronco.
Der Pilot drückte grinsend auf den Sender mit dem Fernzünder.
Der Ford Bronco flog auseinander, als wäre er auf eine Miene in Vietnam gefahren.
Das waren noch Zeiten.
Der Pilot griff zum Funkgerät.
"Sagt Opus, die Engel fliegen!"
In einer eleganten Schleife zog er den Hubschrauber herum.
Ja, das war besser als Vietnam und es würde noch besser werden.









Gelb, was habe ich gegen Gelb?

... sie hatten aber alle keine erkennbaren Gesichter. Immer wenn ich meinte ein Gesicht erkannt zu haben, es gedanklich zu ergreifen, es festzuhalten, wurde mir die Unwirklichkeit dessen bewusst, was ich zu erleben nur zeitweise realisierte.
Gestalten, die durch meine Gedanken irrten. Immer wieder versuchte ich einen von ihnen zu berühren, versuchte eine Gestalt zu halten, zu identifizieren, doch immer wieder, entglitt sie meinen imaginären Fingern und wehte davon.
Die Musik war lauter geworden.
"a dream within a dream"
Wo war die Zigarette geblieben?
Ich versuchte einen der Menschen mit Gewalt zu halten, hatte ich doch in Träumen immer übermenschliche Kräfte, war ich im Traum immer unüberwindbar, unbezwingbar...
Er löste sich vor meinen Augen, unter meinen Händen auf, als hätte er nie existiert, als wäre er tatsächlich nichts anderes als ein Gedanke gewesen, ein Gedanke an Menschen, Menschen, die es nicht mehr gab.
Die Farbe gelb wurde dominanter.
Einer der Hügel erhielt eine gelbe Spitze.
Die Musik wechselte.
Ich hörte, dass Kate Bush mir eine Aufforderung ins Ohr säuselte.
"It"s only cold,
And make a deal with god
we'r running up that road
we'r running up that hill
We'r running up that building"
Nein ich wollte diesen Hill nicht uprunnen, wollte nicht das Gebäude erklimmen, wollte nur meine Ruhe haben.
Das musst Du verstehen!
Ich mache auch keinen Deal mit God, warum ist das alles so unabänderlich gelb?
Wird immer gelber und gelber.
Es war wirklich ziemlich cold, und wurde immer colder.
War zu cold...
Nun an meinen Beinen hochgecoldet.
Nein, das war zu gelb!
Flucht!
Warum, es ist doch ein Traum?
Trotzdem, das ist zu gelb und kommt gleich down the hill...
Unsinn!
Aber meine Beine sind doch schon festgefroren, wenn ich nicht gehe, werden sie abbrechen und wie soll ich dann je wieder gehen?
Es wurde immer gelber und kam down den Hill.
Nein! Weg! Nicht!! Gelb!!! Kein Deal!!!!
Die Sonne...
Ihre Strahlen stachen durch die verbliebenen Fragmente der Fensterscheibe direkt in mein Gesicht, hatten mich auf diese Weise geweckt, trugen dazu bei, mir neues Leben einzuhauchen, mich aus einer wochenlangen Apathie erwachen zu lassen und mich erstmals wieder bewusst denken zu lassen.
Wo war ich?
Wo war ich überhaupt gewesen, in den letzten Tagen, Wochen, Monaten?
Ich stand auf und stellte mit einem Blick fest, dass ich diesem Raum nichts Essbares finden würde.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster, ein überdimensionaler Kaktehenbusch - Opunzia robusta - und Hanfpflanzen, so weit das Auge reichte, wobei die Sonne wohl erst vor ein paar Stunden aufgegangen war und den Tag schon erwärmt hatte, bevor sie den Weg in mein Gesicht gefunden hatte.
Der Raum, in dem ich geschlafen hatte, war kärglich eingerichtet und schien schon lange nicht mehr bewohnt gewesen zu sein.
Konnte ich in diesem Haus etwas Essbares finden?
Sicher nur, wenn ich endlich anfing zu suchen!
Ich fand schnell die angrenzende Küche, die sich ebenso als Enttäuschung entpuppte, wie der Rest des kleinen Hauses; nichts was man essen konnte.
Ich fand überhaupt keine Nahrungsmittel, wenn man mal von dem Tee absah.
Ein unterdrücktes Knurren!
Ich fuhr herum...
Nichts, nur mein Magen!
Aber warum war ich so reaktionsbereit? Was hatte ich in den letzten Wochen und Monaten erlebt, dass ich zu solchen übertriebenen Reaktionen neigte?
Ich verließ das Haus, in dem sowieso nichts zu finden war, was auch immer ich suchte.
Trinken, Essen und der auch vor allem Erinnerung!
Vor dem Haus entdeckte ich einen Spaten, bei dessen Anblick sich mir der Magen umdrehte. Wie sollte man sich übergeben, wenn man einen leeren Magen hatte?
Ich machte einen angemessenen Bogen um den Spaten, um die Ecken des weißen Hauses zu umrunden, natürlich nicht eines beliebigen Hauses, sondern die Ecken des Hauses, in dem ich geschlafen hatte.
Ich erinnerte mich an die Adjektivplatzierung im Französischen, die einen Unterschied zwischen la blanc Maison und la Maison blanc machte.
Ich stieß mir den Kopf am linken Außenspiegel eines geparkten Ford Transit.
Oh Mann!
Ich hatte einen Blick in den Spiegel erhaschen können, den ich nicht zu wiederholen gedachte.
Das sollte ich sein?
Ich, der ich mich immer eine stattliche Erscheinung gewesen war?
Ich blickte an mir hinunter. Die Hose hatte mir gepasst, ich erkannte sie an den Flicken, die ich selbst aufgebügelt hatte, um sie danach zu umnähen - und jetzt wurde sie nur noch von dem Gürtel gehalten, der bisher keine praktische Daseinsberechtigung gehabt hatte.
Was war in den letzten Monaten geschehen? Was für eine Veränderung war vor sich gegangen? Wo war ich? Was wusste ich nicht mehr, denn ich war sicher, ich hatte einen großen Teil der letzten Zeit vergessen oder verdrängt.
Verdrängt!
Wahrscheinlich hatte ich die mir fehlenden Fakten verdrängt, konnte ich mich doch sonst auf mein Gedächtnis verlassen.
Aber warum sollte ich irgend etwas verdrängt haben?
Warum?
Die linke Seitenscheibe des Ford Transit war hinuntergekurbelt und ich konnte sehen, dass der Zündschlüssel steckte.
Ich nahm ihn an mich und sah mir das Bild an, das in Kunststoff eingegossen war und die Aufgabe eines Schlüsselanhängers übernommen hatte.
Bot sich nun eine Gelegenheit, gewisse Verdrängungsprozesse rückgängig zu machen? Das Bild zeigte eine Familie, Frau, Mann und fünf Kinder.
Ich legte den Schlüssel auf die vordere Sitzbank und ging weiter.
Wie eine Marmorstatue, Salzsäule oder sonst was solides blieb ich wie angewurzelt stehen.
Mein Blick war auf eine freie Stelle hinter dem Kleinbus gefallen, auf eine unübersehbare Lücke in dem Grün der Bepflanzung, auf einen Flecken brauner Erde, die man aufgehäuft hatte, aufgehäuft zu sieben Gräbern, von denen zwei größer waren als die anderen fünf, ein Familiengrab!
Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um wieder klar sehen zu können, aber es wird schon eine Weile gedauert haben.
Es fiel mir nicht schwer, einen Zusammenhang zwischen dem Schlüsselanhänger und dem Familiengrab zu sehen, aber was hatte mich an einem harmlosen Spaten so sehr irritiert?
Hatte ich die Familie begraben?
Warum hatte ich nicht die dafür zuständigen Behörden informiert?
Warum waren keine anderen Menschen in der Nähe?
Warum konnte ich mich nicht erinnern, mit anderen Menschen gesprochen zu haben, in der letzten Zeit?
Ich ging weiter, um das nächstbeste Haus zu durchsuchen.
Nichts, wenn man von ein paar Dosen Dolmadakia und einem lässigen amerikanischen Dosenöffner absah.
Ich erwählte dieses Haus zu meinem vorläufigen Basislager, wobei ich bei dem Gedanken au ein Basislager grinsen musste und durchsuchte systematisch die anderen Häuser.
Alles was ich an brauchbaren und essbaren Dingen fand, trug ich zusammen.
Warum hatte ich all die Gegenstände aus den unverschlossenen Häusern zusammengetragen?
Gab es einen Grund, etwa anzunehmen, dass die Bewohner die Gegenstände nicht mehr brauchen würden? War anzunehmen, dass sie nicht zurückkehren würden, um ihre Häuser wieder zu bewohnen?
Außer dem Familiengrab hatte ich nichts gefunden, was auf Tote schließen ließ.
Das einzige was mir aufgefallen war, als ich die Häuser des Dorfes durchsucht hatte, war dieser bewohnte Eindruck, als wären die Bewohner nur ein paar Minuten rausgegangen, als würden sie jeden Augenblick zurückkehren können.
Aber warum hatte ich unter diesen Umständen die Häuser geplündert?
Geplündert?
Geplündert!
Ja, ich hatte geplündert, wie sollte man es anders benennen?
Gab es da nicht so eine Geschichte, dass man Plünderer in Krisengebieten sofort erschoss?
Katastrophengebiet?
Das einzige, was man als Katastrophe ansehen konnte, war vollständige Abwesenheit lebender Menschen und ob man das als Katastrophe werten konnte erschien mir höchstgradig fragwürdig.
Ich machte zunächst einmal Wasser heiß, um den obligatorischen Cai zu produzieren wenn schon Türkei, dann auch richtig.
Da die Stromversorgung nicht mehr funktionierte, musste ich auf eine Propangasflasche nebst Druckminderer zurückgreifen, deren Besitzer ich in höchsten Maßen dankbar war.
Nach einem Essen, das für mich ein richtiges Festmahl war bestehend aus dem Inhalt der Dolmadakiadosen und einer halben Kanne des Tees, der seine Wirkung tat, beschloss ich, die nähere Umgebung des Dorfes zu erkunden.
In einer so unerklärlichen Situation, wie ich sie durchlebte, konnte man nie vorsichtig genug sein, konnte man nie genug Informationen haben, um sie im Rahmen einer richtigen Kombination so genannter aristotelischer Logik, zu den einzig richtigen Schlussfolgerungen zu verwerten.
Ich schwang mich hinter das Lenkrad des bereits erwähnten Transit, dessen Motor zwar unwillig aber doch zuverlässig ansprang.
Auf der einzigen Strasse, die durch das Dorf führte, wich ich einer Schildkröte aus, wobei ich allerdings dachte, dass ihr Panzer den Ford verkraften musste.
Ich fand eine Cassette und steckte sie in den dafür vorgesehenen Schlitz des Rekorders, um das unablässige Quietschen des Fahrwerkes zu übertönen.
Oh, nein, türkische Folklore hatte mich noch nie gefesselt.
Nachdem ich die Musikwiedergabemaschine deaktiviert hatte, fühlte mich wieder etwas besser.
Ich befuhr einen holprigen Feldweg, der den alten Transit in seinen Grundfesten erschütterte, um sehen zu können, was sich hinter der Hügelkuppe verbarg.
Was war das?
Nein!
Ich trat neben die Bremse und der Wagen streifte eine Palme bevor er holpernd stehen blieb.
Ich hatte meinen Alptraum, der letzten Wochen gefunden, dieser Alptraum stand vor mir, groß und gelb und nannte sich Caterpillar - gelb und nannte sich Caterpillar.
Das war es, was mich die letzten Wochen beschäftigt hatte, was ich aus meiner Erinnerung auszumerzen versucht hatte, so weit ausgemerzt hatte, dass ich beim Aufwachen nicht mehr gewusst hatte, was hinter mir lag und dass ich nicht gewusst hatte, dass ich dieses Massengrab mit dem dorfeigenen Caterpillar angelegt hatte.
Mit lautem Getriebekrachen schaltete ich in den Rückwärtsgang, um so schnell wie möglich diesen Ort der Erinnerungen hinter mir zu lassen.
Der Ford machte einen Satz nach hinten und prallte gegen die Palme, die er zuvor gestreift hatte. Nach ein paar weitere Manövern war es mir gelungen den schaurigen Ort zu verlassen.
In meinem Gehirn spukten alle möglichen und unmöglichen Gedanken herum, die alle nur über eine Gemeinsamkeit verfügten, sie waren allesamt konfus.
Konfus!
Wie konnte ein solches Wort auf Konfuzius zurückgehen?
Vielleicht weil ihn seine Zeitgenossen und Nachfahren nicht verstanden hatten? Vielleicht weil ihnen seine Beweggründe verborgen geblieben waren!
Nein!
Alles nur nicht das!
Ich versuchte an alles mögliche zu denken, was der Lehre des Christentums zuwider war, dachte an sexuelle Ausschweifungen, Mischehen, Abtreibungen, Masturbation, schwarze Messen und Vielgötterei.
Nein, so konnte ich meinen Problemen nicht gerecht werden.
Drohte ich wieder in den Zustand der geistigen Umnachtung versinken, den ich, so hoffte ich, ein für allemal verlassen hatte?
Ein Dorf in der Türkei!
Ein Familiengrab!
Ein Caterpillar!
Ein Massengrab!
Ein Deutscher!
Ein Dolmus!
Viktor!
Ich!
Warum waren alle diese Menschen nicht mehr am Leben?
Warum gab es keinen Strom mehr? Obschon in der Türkei war die Abwesenheit von Strom nichts Besonderes, es gibt immer wieder keinen Strom, wie es immer wieder kein Wasser gab.
Warum aber kam keine Hilfe?
Warum konnte ich mich nicht erinnern, in den letzten Wochen Menschen gesehen zu haben?
Vielleicht hatte es in diesem Teil der Türkei eine Seuche gegeben, die nur ich überlebt hatte?!
Aber wo war dann das Rote Kreuz, wo der Türkische Halbmond?
Mir kam ein Gedanke, der in seiner Tragweite alles mir vorstellbare in den Schatten stellte.
Vielleicht hatte diese Seuche die ganze westliche Türkei heimgesucht und es würde noch Wochen dauern, bis Hilfe eintraf.
Aber warum hatte ich dann noch nicht einmal Flugzeuge und Hubschrauber gesehen?
Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich beim Zusammentragen der nützlichen Gegenstände ein batteriebetriebenes Transistorradio gesehen hatte, was mir allerdings nicht gelang.
Mein Blick fiel auf den zuvor benutzten Cassettenrekorder im Armaturenbrett und ich trat wieder auf die Bremse, ohne einen Blick in den Innenspiegel geworfen zu haben, wozu auch?
Das Gerät, das ich für einen Cassettenrekorder gehalten hatte war ein Cassettenradio und ich fand sehr schnell den Schalter, um es einzuschalten.
Die türkische Folklore, die ich erwartet hatte blieb aus.
Eigentlich blieb alles aus, was so ein Sender senden konnte.
Ich drehte an dem Knopf, mit dem man Sender sucht.
Nichts, nur dieses unentwegte Rauschen!
Vielleicht war das Radio nicht in Ordnung?
Ich versuchte die anderem Kanäle.
Nichts, gar nichts!
Was sollte das?
Ich gab nicht auf.
Da, da war doch was!
Ja, ich hatte Musik gefunden.
Es klang wie Pink Floyd, ich hätte jede Wette auf mich genommen es musste sich um The Wall handeln!
Und da kam es schon!
"We don"t need no edukation!
We don"t need no Thought-controll!
No dark sarcasm in the class-room!
Teachers leave us kids alone!
Hey, teachers, leave us kids alone@
All in all it's just another brick in the wall!
Hey, teachers, leave us kids alone!
All in all it's just another brick in the wall!
Es ist nicht zu beschreiben, wie gut diese Klänge meiner angegriffenen Psyche taten!
Sie waren eine unbeschreibliche Wohltat! Meine Gedanken wurden aus der Realität gezerrt und gingen auf in diesen Klängen.
Klängen die ich so lange gemisst hatte.
Langsam fuhr ich zum Dorf zurück, wobei ich das Radio so laut wie möglich gemacht hatte, ohne dass es schepperte.
Irgendwann würde gesprochen werden und irgendwann würde man auch Nachrichten senden, dann würde ich erfahren, was los war.
Ich kam gar nicht auf den Gedanken, dass ich die Sprache des Nachrichtensprechers nicht verstehen könnte, wurde allerdings eines besseren belehrt, als die Musik zuende gegangen war.
Wie ein Wasserfall redete eine Stimme.
Ich konnte die Sprache nicht eindeutig als spanisch oder italienisch identifizieren, was von wenig Nutzen gewesen wäre, verstand ich doch beide Sprachen nicht.
Nur eines fiel mir auf, zwei Worte, die ziemlich häufig wiederholt wurden und wohl eine zentrale Bedeutung im Sender haben mussten.
"Terra futura!"
"TERRA FUTURA!"
Konnte das der Name des Senders sein?
Warum nicht?
Mir war zwar kein Sender dieses Namens bekannt, aber ich konnte ja auch nicht alle mediterranen Sender kennen.
Es folgte Musik, die in etwa dem Stil von Pink Floyd entsprach, vielleicht von Genesis oder Yes, ich weiß es nicht.
Ich beschloss, den Sender eingeschaltet zu lassen, um keine Sendung zu verpassen, die in einer Sprache erfolgte, die ich Verstand.
Wenn man nur einen Sender empfangen konnte, war es sehr nützlich, dass dieser Sender sich verschiedener Sprachen bediente.
Vor dem Haus, das ich zum Basis meiner Operationen auserkoren hatte, hielt ich an und ließ das Radio weiterplärren, als das Geräusch des Motors erstarb.
Ich blieb hinter dem Lenkrad sitzen und versuchte meine Situation zu analysieren, wobei ich ernsthaft bemüht war, alle vorhandenen Prämissen in unverfälschter Weise zu benutzen, um somit zu einer unverfälschten Konklusion zu gelangen.
Die Musik wechselte, man konnte nun der unnachahmlichen Stimme Joe Cockers lauschen, der einen seiner älteren Evergreens zum Besten gab.
"Don't you love me anymore."
Ich befand mich also in einem Dorf, in der Türkei, in dem Menschen gestorben waren, wobei der Tod mich übersehen haben musste. Das unerklärliche Sterben musste auch die Nachbardörfer erfasst haben, denn sonst wären schon Menschen aufgetaucht, um nach überlebenden Verwandten zu suchen, türkische Familien entwickeln ein ausgesprochen starkes Zusammengehörigkeitsgefühl.
Weiter war anzunehmen, dass das unerklärliche Massensterben nicht nur die Dörfer in der näheren Umgebung ergriffen haben musste, sondern weiter um sich gegriffen hatte, denn sonst wäre bereits Hilfe aus weiter entfernteren Teilen des Landes herbeigeeilt, ganz zu schweigen vom Ausland.
Die Katastrophe musste also wesentlich größere Ausmaße haben, als ich es zunächst vermutet hatte - vielleicht die ganze Türkei?
Aber dann hätte das Radio nicht so ungewohnt geschwiegen, hätten noch andere Sender existieren müssen. Ich hatte aber nur einen einzigen Sender gefunden.
Vielleicht war ja auch der ganze Mittelmeerraum betroffen.
Es würde Monate dauern, bis Hilfe eintraf!
Monate!
Was für ein Datum hatten wir?
Ich sah mir die Hanfpflanzen genauer an.
Wir hatten Frühling!
Wo war der Winter geblieben?
Hatte ich den ganzen Winter damit zugebracht, vor mich hinzudämmern und caterpillarzufahren?
Vielleicht sollte ich den Tag meines unverhofften Erwachens als den Tag meiner zweiten Geburt festlegen!
Dazu hätte ich aber das Datum kennen müssen!
Man konnte also die Tatsache meines Überlebens als außergewöhnlichen Zufall deklarieren, wenn man bedachte, dass meines Wissens außer mir nur noch dieser Spanier - oder war es ein Italiener - im Radio überlebt hatte.
Ich stellte mit einem schnellen Blick fest, dass dieses Radio über die Möglichkeit des Empfanges der Kurzwelle verfügte.
Ich brauchte mehr Informationen!
Informationen!
Wenn ich sie schon nicht aus meiner Umgebung und dem Radio ziehen konnte, musste ich versuchen meine verdrängten Erinnerungen anzuzapfen. Ich konnte mir vorstellen, dass sie sehr unerfreulich sein mussten, war doch der Prozess des Verdrängens etwas, was meiner Psyche bislang unbekannt gewesen war...
Ich dachte an den Alptraum, in dem mich ein gelbes Ungetüm zu überrollen versuchte. Das heißt, überrollen konnte ich erst sagen, seit dem ich allen Grund zu der Annahme hatte, dass es sich bei dem gelben Ungetüm um den Caterpillar handelte der immer noch groß und bedrohlich außerhalb des Dorfes wartete - auf mich wartete!
Wartete?
Auf was wartete?
Auf mich, um auch mich unterpflügen zu können?
Oder wartete er auf mich, um mit mir zu weiteren Massenbeerdigungen beitragen zu können?
Alles Unsinn!
Ich konnte mich düster erinnern, wie nach einer durchzechten Nacht.
Ich war irgendwann einmal zu Fuß in dieses Dorf gekommen. Wo kam ich her?
Aus anderen Dörfern?
Vielleicht!
Ich kam also in dieses Dorf und fand gleich im ersten Haus sieben Tote, die schon einige Tage so daliegen mussten. Ich konnte sie nicht länger so herumliegen lassen, niemand hatte sich um dieses Geschehen gekümmert. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu begraben. Das habe ich dann auch im hauseigen Garten getan.
Das Familiengrab!
Als ich einen Tag später weitergehen wollte, stieß ich auf die anderen Bewohner des Dorfes - und auf den Caterpillar.
Im Radio war wieder die maschinengewehrartige Stimme zu hören, deren einzig verständlicher Sinn immer nur Terra futura, oder Radio terra futura, mit Ausnahme einiger weniger Worte, deren Sinn ich aufgrund meiner geringen Lateinkenntnisse kannte.
Aber es musste doch noch andere Sender geben, Sender die in der Lage waren, sich verständlich auszudrücken!
Ich sprang aus dem Dolmus und rannte ins nächstbeste Haus, um nach einem batteriebetriebenen Transistorradio zu suchen.
So etwas musste es doch geben! Zumindest in der Türkei musste man so etwas in jedem Haushalt haben!
Im dritten Haus hatte ich Erfolg!
Und tatsächlich es tat sich etwas, die Batterien hatten noch Kapazität. Ich rannte mit meinem Fund ins Freie, drückte auf die Taste für Kurzwelle und hörte wieder nur dieses beschissene Rauschen.
Das durfte doch nicht wahr sein! Ich drehte und drehte und hörte immer nur dieses entsetzliche Rauschen, in verschiedensten Varianten.
Doch dann plötzlich, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.
"Hallo, happy to live today! Here is the new Radio terra futur."
Man hörte kurz Musik.
Ich wartete unweigerlich auf die Werbung, doch sie sollte erst Tage später kommen.
Aber hatte das Maschinengewehr eben nicht englisch gesprochen?
"So much lost life!" - diese Worte klangen so besinnlich...
- "Sorry, you here me, and..." der Sprecher zögerte, während ich den Lautstärkeregler langsam in Richtung Maximum drehte.
-" for anyone who here me, there's a message for you! "
Eine Pause und ich dachte schon, er würde nicht mehr weiterreden.
"You're still alife!"
Nun folgten die bekannten Takte von John Lennon and Yoko Ono.
"Everybody is talking 'bout..."
Wie lange hatte ich diese Musik schon nicht mehr gehört?
"All we are saying is, give peace a chance!"
Ich ging, das Transistorradio wie einen Fetisch vor mich hintragend, zurück zum Dolmus, um festzustellen, dass auch das Radio im Ford give peace a chance plärrte.
Ich unterdrückte den Impuls, das Transistorgerät auf den Boden zu schleudern und überzeugte mich davon, dass das tragbare Radiogerät einen besseren Klang aufzuweisen hatte, als das im Ford. Sollte ich es am Bordnetz des Kleinbusses anschließen?
Erst bei diesem Gedanken kam mir zu Bewusstsein, dass auch Energie aus der Autobatterie nicht unerschöpflich sein konnte, ebenso, wie der Tankinhalt.
Was tun? Sprach Zeus.
Der Sender "Radio terra futura" kam mir ja mehr wie "Terra incognita" vor, oder wie Terra in flagranti.
Ich musste lachen! Ich musste lachen, tatsächlich!
Ich konnte lachen!
Wie viele Leute würden wohl in diesem Augenblick lachen können?
John Lennon hören?
Ich schaltete das Transistorradio aus und legte es auf den Fahrersitz des Ford.
Irgendwo in diesem Dorf musste es doch noch ein anderes Radio geben, das hatten Autos nämlich so an sich, dass es sie eigentlich nicht ohne Radio gab, zumal mir niemand einfiel, der eines gebrauchen könnte.
Das Fordradio beendete soeben den John-Lennon-Remembersong, wobei mir einfiel, dass auf der Rückseite der Single Yoko Ono a cappella den Song "Remember Love" zum Besten gab.
Aber sie sang doch alleine!
Was soll's?
Ich machte mich daran, einige Hanfpflanzen ihrer Blätter zu berauben, hatte aber nicht die Absicht, ein solides Abschleppseil zu fabrizieren. Die Blätter würden sehr schnell in der unerbittlichen Sonne trocknen.
Nach einigen Minuten Suche fand ich hinter einem der Häuser einen Anadol herumstehen, dessen Benzin ich abzapfte, um damit den Tank des Transit zu füllen. Ich ging davon aus, dass dieser Transit, aufgrund seines Platzangebotes, von größerem Nutzen sein würde, als der Anadol.
Außerdem würde es wohl keine Ersatzteilprobleme mit dem Transit geben, denn immerhin befand ich mich in der Türkei.
Ich hatte beschlossen, den Transit mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen des täglichen Gebrauchs zu beladen und mit ihm Richtung Norden zu fahren, immer an der Küste entlang - irgendwann musste ich ja das Katastrophengebiet verlassen um wieder in die Zivilisation zurückzukehren.
- Vielleicht sollte ich dann über meine Erlebnisse ein Buch schreiben -
Wenn ich auch keine menschliche Gesellschaft hatte, so hatte ich doch eines, Zeit, Zeit und ein ganzes Dorf als Fundus.
Ich beschloss mir einen Zeitplan zurechtzulegen, nachdem ich jeden Tag eines der Häuser systematisch durchsuchte, bis ich sicher sein konnte, dass mir kein Gegenstand entgangen war, der sich später mal als nützlich erweisen konnte.
Aber zuvor musste ich an mein leibliches wohl denken.
Ich begann so viele Hanfpflanzen ihrer Blätter zu berauben, wie mir angemessen erschien.





*




Komplott-Komplett
Präkatastrophal

Die schwarze Limousine verfügte über eine Klimaanlage und getönte Scheiben, sonst wäre es nicht auszuhalten aufgrund der unerbittlichen Hitze nicht auszuhalten gewesen.
Die Strahlen der unerbittlichen Sonne Kaliforniens, die alles tat, um auch noch den letzten Tropfen Flüssigkeit aus den Körpern der Pflanzen, Menschen und Tiere sowie aus dem ausgelaugten Boden zu saugen.
Auffällig unauffällig waren am Strassenrand in regelmäßigen Abständen auffällig unauffällige Limousinen und Coupés geparkt - man hatte infolge der unerbittlichen Sonne auf Convertibles verzichtet - die auf unauffällige Weise den Weg der Limousine sichern sollten um am Treffpunkt, einer Kreuzung inmitten der Kalifornischen Wüste, nahe der Grenze zum Nachbarstaat Nevada, wartete bereits eine andere Limousine, ein Rolls Royce älteren Baujahrs.
Der Lincoln-Continental drehte, um mit seinem Kühler wieder in die Richtung zu zeigen aus der er gekommen war.
Der Rolls Royce verfügte ebenfalls über abgedunkelte Scheiben und der Motor war nicht ausgeschaltet, um Strom für die Klimaanlage zu liefern.
Eine der hinteren Türen des Rolls öffnete sich und ein Mann im Nadelstreifenanzug kam heraus, und näherte sich mit langsamen Schritten dem Lincoln, dessen Fahrer ebenfalls den Motor zu Stromerzeugung für die Klimaanlage nutze.
"Stop!"
Das Kommando stammte aus einem verborgenen Lautsprecher.
"Ziehen sie sich langsam aus, wir wollen nur sichergehen, dass sie der richtige Mann sind!"
Der Mann begann langsam seinen Anzug abzulegen, wobei er sich ein zynisches Grinsen nicht verkneifen konnte.
"Sie wollen also wissen, ob ich ein richtiger Mann bin, na dann los!"
Als er auch nicht zögerte, seine Unterhose abzulegen, ertönte wieder die befehlsgewohnte Stimme.
"Das reicht, sie können reinkommen!"
Bei dem Mann hatten sich zwischenzeitlich Schweißtropfen auf der Stirn gebildet - aber bei solchen Geschäften sollte man nicht zimperlich sein!
Eine Tür im Lincoln öffnete sich gerade so weit, dass er hindurchschlüpfen konnte. Im Inneren des Wagens war es kalt und er wurde von zwei kräftigen Kerlen ergriffen, in einen Sitz gedrückt und an dessen Lehnen mit Handschellen angebunden.
Der Mann ertrug diese Prozedur mit Fassung, und ohne auch nur eine Miene zu verziehen; gelassen betrachtete er sein Gegenüber.
Die Männer, man hätte sie wohl auch als Gorillas bezeichnen können, stiegen aus und ließen den Mann, dessen Nadelstreifenanzug in der Wüste lag, mit seinem Gastgeber allein.
"Es tut mir leid, ihnen diese Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen, aber in meiner Position..."
"Aber, aber, Eminenz! Ihre Sicherheit ist auch für mich ein äußerst wichtiges Anliegen!"
Der alte Mann im schwarzen Kleid lachte verstehend.
"Also werden sie nicht zögern, unsere Pläne weiterzuverfolgen!?"
"Wie könnte ich, ich werde doch nicht meinen besten Kunden verärgern wollen!"
"Dann erzählen sie 'mal!"
"Dieser Journalist hat einen bedauerlichen Unfall erlitten und wird sicher keine Lügen mehr verbreiten können; Spuren gib es selbstverständlich keine, es ist eben ein ganz normaler Unfall gewesen."
"Der Herr sei seiner Seele gnädig!"
Der alte Mann schien es tatsächlich ernst zu meinen.
'Und auch deiner!' dachte der Mann in der Unterhose, der allmählich zu frieren begann.

Der alte Mann wandte sich übergangslos einem anderen Thema zu.
"Was machen meine... unsere anderen Pläne?"
"Im Großen und Ganzen kann ich dazu nur sagen, dass sie Fortschritte machen, denn so lange uns die finanziellen Mittel nicht ausgehen - und wie sollte das bei ihrer Gesellschaft geschehen - ist damit zu rechnen, dass wir in unseren Bemühungen einem Erfolg immer näher kommen werden!"
Und Eminenz, wenn sie erlauben, je mehr Zeit wir uns für die Suche lassen, desto größer wird der Erfolg sein. Wir sind uns einig, nicht wieder eine solche Panne, wie bei HIV zu dulden."
"Jedenfalls können wir sicher sein, dass die undichte Stelle in unserer Organisation abgedichtet wurde, es wird also keinen Informanten geben, der einen weiteren Journalisten informiert."
"Ich muss sicher nicht extra betonen, auf was es uns bei diesem Unternehmen ankommt!"
"Nein, die Zielsetzung ist uns klar. Diesmal geht es darum, menschlichen Geschlechtsverkehr und damit jede Form von Sexualität überflüssig zu machen! Es geht um die unbefleckte Empfängnis im großen Stil!"
Der alte Mann wirkte unwirsch.
"Ich glaube nicht, dass sie genug von diesen Dingen verstehen, um in dieser Weise reden zu können!"
"Selbstverständlich Eminenz, es tut mir leid!"
"Ist ja schon gut!"
"Wir werden wahrscheinlich innerhalb der nächsten zehn Tage mit den eigentlichen Versuchen beginnen können, ich hoffe, dass sie uns die Frauen so schnell wie möglich zur Verfügung stellen."
"Das wird kein Problem sein, mein Sohn, unsere Organisation verfügt über ein Heer von Freiwilligen. Wir werden also das Projekt bald in Angriff nehmen können? Wir werden die Fleischeslust in ihre Schranken weisen! Wir werden die Erde von dieser
Sünde befreien! Wie ist es mit unserem anderen Projekt? Schließlich wollen meine Brüder und ich die Ernte unserer Saat noch erleben!"
"Unsere Biogenetiker kommen ihrem Ziel langsam immer näher, genauer gesagt ist es ihnen gelungen, eine DNS-Gruppe zu isolieren, die im Stande ist, die vorprogrammierte Alterung einer Zelle anzuhalten. Sie werden verstehen, dass der Professor, der mit dieser Aufgabe befasst ist, nicht die volle Wahrheit zu kennen braucht. Er sucht offiziell nach einem Weg, ein Universalmittel gegen jede Art von infiltrativen Tumoren zu entwickeln. Sein Assistent ist einen Schritt weiter eingeweiht und wird die Arbeit des Professors weiterführen, wenn dieser seinen tragischen Unfall erlitten hat, wozu es allerdings noch entschieden zu früh ist."
"Sie sagen zu früh! Bedenken sie die ungeheuren Geldmittel, die wir ihnen zur Verfügung stellen, sie sind weitaus weniger unerschöpflich, als sie meinen. Sie können sich gar nicht vorstellen, was für gewaltige Transaktionen vonnöten sind, um so hohe Mittel bereitzustellen, die dazu noch zum Teil aus den wöchentlichen Kollekten stammen. Sie müssen bedenken, dass eine so gewaltige Organisation wie die unsere Ausgaben hat, die in die Millionen bis Milliarden Höhen gehen! Sie können sich gar nicht vorstellen, was für Schwierigkeiten wir zum Teil haben, unsere Fabriken für Rüstungsgüter vor unseren Schäfchen zu verbergen!"
Der Mann mit der Unterhose sagte nichts, sondern wartete bis die Erregung seines Gegenübers verflogen war.
"Eminenz! Ich denke wir können diese Unterredung für heute beenden, wir können uns dann wie üblich wieder miteinander in Verbindung setzen."
"Ich weiß genau, dass sie meine Ansichten nicht teilen, wir haben Erkundigungen über sie eingezogen!"
Obwohl er fror, brach dem Mann in der Unterhose nun der Schweiß aus, - er sagte aber kein Wort.
,,Trotzdem leisten sie zufriedenstellende Arbeit. Mich würde interessieren, was sie antreibt"
"Der Mammon, Eminenz, nichts als der schnöde der Mammon!"
Die Antwort war so lakonisch, wie sie wirkte, denn beide wussten, dass er diese Unsummen nur brauchte, um seine obskuren sexuellen Ausschweifungen zu finanzieren, aber - und das wusste der Mann in der Unterhose nicht - das war der einzige Punkt, in dem sie sich glichen!
Aufgrund eines Knopfdruckes seiner Eminenz kamen die Bodyguards zurück, um den Mann in der Unterhose zu befreien und ihn aus dem Wagen zu halfen.
Über der Straße flimmerte die Luft aufgeheizt.
Der Lincoln verschwand mit zunehmender Geschwindigkeit, woraufhin sich die hintere Tür des Rolls öffnete.
Die Frau die hinaussah, war ganz in Leder gekleidet, wobei entscheidenden Stellen unbedeckt blieben, schwang eine Peitsche und winkte dem Mann in der Unterhose aufmunternd zu.
"Warum ziehst du dieses lächerliche Ding nicht auch noch aus, deine Domina wartet auf dich!"
" DIE GANZE ZEIT!"





*




Es ist kaum zu glauben, was man alles an nützlichen Dingen in einem Dorf finden kann, das einem uneingeschränkt zur Verfügung steht.
Immerhin hatte ich mir vier Tage Zeit genommen, alles zu durchsuchen. Wenn man bedenkt, was man auf diese Art und Weise alles über die ehemaligen Bewohner der Häuser erfahren konnte kam es einem bald so vor, als sei ein guter Bekannter gestorben.
Bei mir war es nun ein ganzes Dorf guter bis sehr guter Frauen, Männer und Kinder, über die ich nun mehr wusste, als sie zu Lebzeiten übereinander gewusst hatten.
Diesen Tag hatte ich zum Sonntag deklariert, denn es sollte der Vortag meiner Abreise werden. In den Häusern hatte ich nichts mehr verloren, denn ich hatte alles was man auch nur halbwegs brauchen konnte herausgeholt, um es vor dem Dolmus aufzubauen, Also stand ich nun vor der schwierigen Aufgabe, die wirklich brauchbaren Dinge in den Ford zu laden, und die weniger wichtigen im Dorf zurückzulassen.
Weiterhin erwies es sich als Schwierigkeit, die nötigen Dinge des so genannten täglichen Gebrauchs so zu verpacken oder zu verstauen, dass sie im Rahmen meines Bedarfes jederzeit verfügbar und zugänglich waren, ohne dass man den ganzen Wagen leer zu räumen hatte.
Über die Richtung, in die ich fahren würde war ich mir noch im Unklaren, hatte ich doch ein Schild gefunden, auf dem die Richtungen nach Bodrum und Kusadasi aufgezeigt waren, ich würde wahrscheinlich würfeln oder eine Münze werfen.
Das Radio, das ich in einem der Häuser gefunden hatte, war an das Bordnetz des Transit angeschlossen, so dass ich die Musik fast im ganzen Dorf hören konnte. Brauchbare Informationen hatte mir Radio terra inflagranti bislang nicht geboten, denn alle längeren durchsagen waren in Italienisch erfolgt. Ich hatte festgestellt, dass es sich um die italienische Sprache handeln konnte, da keines der spanischen Worte, die ich kannte, in seiner eigentlichen Form vorgekommen war.
Das Musikprogramm des Senders konnte sich hören lassen, zumindest jeder dritte Titel hätte auch von mir ausgewählt sein können. Mit anderen Worten, ich hatte bisher keinen Sender gehört, dessen Musikprogramm mit meinem Geschmack so konform gegangen war.
Zur Zeit konnte ich eines meiner alten Lieblingsstücke von Moody Blues hören, Melancholy Man, das ich mir zu meiner Beerdigung ausgesucht hätte, nicht weil ich meinte besonders melancholisch zu sein, sondern weil es mir einfach gut gefiel, weil ich bei diesen Klängen gute Gefühle, vielleicht auch schöne Erinnerungen hatte.

MELANCHOLY MAN. Mike Pinder

I'm a melancholy man, that's all what I am,
All the world surrounds me, and my feet are on the ground,

I'm a very lonely man, doing what I can,
All the world astounds me and I think I understand
That we're going to keep growing, wait and see.

When all the stars are falling down
into the sea and on the ground,
And angry voices carry on the wind,
A beam of light will fill your head
And you'll remember what's been said
By all the good men this world's ever known.
Another man is what you see,
Who looks like you and looks like me,
And yet somehow he will not feel the same,
His life caught up in misery, he doesn't think like you and me,
'Cause he can't see what you and I can see.


Es folgten musikalische Klänge, wie sie ebenso gut aus einer Wagneroper stammen konnten - ich hatte die Augen geschlossen.
Another man is what you see,
Who looks like you and looks like me,
And yet somehow he will not feel the same,
His life caught up in misery, he doesn't think like you and me,
'Cause he can't see what you and I can see.
Aber dann war ich auch Another Man.
Es war diese Musik, mit der ich growen up war, die ich voller Gier in mich aufgesogen hatte, wie der Wüstenboden das Wasser nach vielen Jahren ohne Regen.
Dieser Vergleich war absolut untauglich, ich weiß, dass der Wüstenboden nach Jahren der Trockenheit kein Wasser aufnehmen kann; trotzdem war mir der Vergleich irgendwie passend erschienen.
Und dann war es diese Musik des Senders Terra Futura, die mich zurückbrachte, in die relative Geborgenheit meiner Kindheit und Jugend.
Kurzfristig kamen mir immer wieder Gedanken, die danach fragten, was ich ohne diese Musik tun würde - vielleicht durchdrehen.
Ich wusste es nicht, und ich wollte es auch gar nicht wissen.
Mit einem Griff wollte ich gerade das Radio ausschalten, die gewaltigen Klänge von Moody Blues nicht durch eine andere Musik entweiht zu hören, als meine Hand auf der Stelle verharrte, weil meine Ohren eine Ansage in deutscher Sprache hörten.
Man spricht deutsch!
"Hallo, ihr da draußen, hallo, alle die ihr uns hört!"
Merkwürdige Ansage!
"Vielleicht hört mich ja jetzt jemand, der meine Sprache versteht, vielleicht aber auch nicht!"
Es folgte wieder eine Kunstpause, der Mann schien verzweifelt nach geeigneten Worten zu ringen, war etwas außergewöhnliches geschehen?
Sollte diese Katastrophe doch größere Ausmaße haben, als ich angenommen hatte?
"Wenn du mich hörst, dann gehörst du zu den wenigen Menschen, die das Ende der Welt überlebt haben!"
Das waren sicher Kunstpausen!
Ich dachte unwillkürlich an das Science-Fiction-Hörspiel War of the Worlds, konnte die Stimme von Orson Welles noch in meinen Ohren klingen hören.
Ende der Welt!
Ende der Welt?
Hatte ich da eben richtig gehört?
"Ich weiß nicht, wie viele Menschen diese Katastrophe überlebt haben, allerdings ist es unwahrscheinlich, dass wir drei die einzigen sind. Ich bin erst vor wenigen Stunden wieder erwacht und kann es immer noch nicht begreifen, weiß gar nicht warum wir überhaupt noch senden, warum wir... Ich weiß nicht, ich kann..."
Es folgte nach einer kurzen Pause außerplanmäßige Musik.
Ich konnte das Radio nicht ausschalten, nicht jetzt!
Die Musik verstummte.
"Giacomo hat gesagt, ich soll ruhig weitersprechen, es sei völlig egal, ob ich schwachsinniges Zeug sage, oder nicht. Jedenfalls glaube ich nicht, dass wir uns das Ende der Welt so vorgestellt haben. Der einzige, dem es nichts auszumachen scheint, ist Giacomo, er handelt, als wenn immer noch tausende von Menschen vor den Radiogeräten hocken würden, obwohl er ganz genau weiß, dass das nicht der Fall ist. Vor dem Ende der Welt waren wir nicht anderes, als ein illegaler Piratensender und wurden von den Behörden aller Mittelmeerstaaten verfolgt, aber jetzt, so scheint es, sind wir der einzige Sender auf dieser Welt, der noch sendet.
Wir haben alle zur Verfügung stehenden Daten ausgewertet und sind zu folgenden Schlußfolgerungen gekommen. Die Menschheit, das heißt mehr als neunzig Prozent der Menschheit , ist an einer neuen unerklärlichen Seuche gestorben, die plötzlich auftrat und innerhalb von weniger als einer Woche die ganze Welt infiziert hat.
Die Überlebenden haben mindestens drei Wochen unter einem Zustand relativer geistiger Umnachtung zugebracht, wonach es dann einige Tage dauerte, bis sie wussten, was in der letzten Zeit geschehen ist. Ich kann euch nur eines sagen, aber wahrscheinlich hört mich doch niemand. Mach Musik, Giacomo! "
"Ja!"
Ich hörte die bekannte Stimme des Italieners, der auf den Deutschen einredete, der Deutsche schien sich von Giacomo beeinflussen zu lassen.
"Na gut, machen wir weiter, vielleicht hört mich ja doch jemand, der mich versteht. Es ist anzunehmen, dass die ganze Erde betroffen ist , dass nur wenige Prozent der Erdbevölkerung überlebt haben.
Wir können keine genaueren Angaben machen, weil wir seit einigen Monaten ohne Außenkontakte sind. Man könnte sagen, wir sind von der Außenwelt abgeschnitten. Für alle, die es noch nicht wissen sollten, Radio terra futura ist der einzige Piratensender im ganzen Mittelmeerraum!"
Der Sprecher schien die Tragweite seiner vorherigen Wort vergessen zu haben und war nun nur noch der Redakteur im Studio, der versucht war, mit allen möglichen und unmöglichen Informationen die Einschaltquoten hochzutreiben, wobei anzunehmen war, dass der Sender, wenn er tatsächlich der letzte Radiosender war, jetzt prozentual betrachtet, einen wahren Einschaltquotenrekord nach dem anderen aufstellte.
Dezent wurde seine Rede ausgeblendet und ging langsam in Musik über.
Ich machte mir keine Mühe, die Musik zu identifizieren, noch gedanklich zu sehr mit den Informationen beschäftigt, die ich soeben über Radio terra futura erfahren hatte.
Die ganze Welt!
Fast alle Menschen!
Das war die ganze Wahrheit !
Das musste die ganze Wahrheit sein!
Ich konnte wahrscheinlich fahren, wohin ich wollte und würde doch nicht auf eine intakte Zivilisation stoßen.
Unweigerlich kamen mir die irrsinnigsten Gedanken, wie Menschen suchen und die Zivilisation neu aufbauen, neue Menschheit, neuer Adam sucht neue Eva! Doch wo war die neue Eva?
Ganz davon abgesehen, hatte es sowieso keinen Sinn eine Menschheit aus der Taufe zu heben, ganz davon abgesehen, dass mir keine Frau zur Verfügung stand, würde neue Menschheit sich sicher nicht anders entwickeln, als die erste.
Wenn ich einfach voraussetzte , dass die soeben untergegangene Menschheit die erste war, was man mit Sicherheit nicht als gesicherte Tatsache sehen konnte...
Was dachte dich für einen Unsinn, angesichts dieser katastrophalen Eröffnung von Radio terra futura?
Wie konnte ich an solche Dinge denken, während fast die ganze Menschheit nicht mehr existierte, alle Menschen, die ich kannte, gekannt hatte, alle Menschen, denen ich begegnet war, so lange ich mich erinnern konnte, alle Menschen, die ich in Filmen, im Fernsehen gesehen hatte, die ich an Radios gehört hatte, deren Musik auf Schallplatten und anderen Tonträgern gespeichert worden war, deren Bücher ich gelesen hatte, einmal, zweimal oder immer wieder; wie konnte das möglich sein, dass alle diese Menschen nicht mehr leben sollten?
Um viele war es nicht schade!
Ich konnte mich spontan an einige Menschen erinnern, die sicherlich keinen Verlust darstellten, weder für die Menschheit, noch für mich.
Aber was war mit den anderen, mit den Menschen, die ich für wert hielt, zu leben? Wie war es mit den Menschen, die mir in meinem Leben nahe standen, oder nahe gestanden hatten?
Sollte es wirklich möglich sein, dass sie alle gestorben waren, alle bis auf einen, alle bis auf mich?
Die ganze Menschheit, bis auf einige Ausnahmen?
Warum?
Warum, es hatte keinen Atomkrieg gegeben, es waren keine Außerirdischen im Rahmen einer Invasion zu uns gekommen, ich konnte mir nicht vorstellen, was für eine Ursache das Ende der Menschheit haben sollte. Im Nachhinein erscheint es mir äußerst merkwürdig, so cool reagiert zu haben, allerdings musste ich berücksichtigen, dass ich unter einer ständigen nuklearen Bedrohung aufgewachsen war, aufgewachsen in einem Land, von dem jeder wusste, dass es im Falle einer weltweiten nuklearen Konfrontation keinen besseren Aufenthaltsort geben konnte, als eben dieses Deutschland, weil es dann nicht nur dem Erdboden gleichgemacht werden würde, sondern dessen ehemalige Fläche nur noch ein riesiger Krater sein würde, ein Loch dessen mahnender Anblick einem schon aus dem Orbit zu sehen sein würde.
Seht her, hier hat die Menschheit gezeigt, was sie kann, lemmingengleich waren die Menschen, nein noch schlimmer, hatten sie doch auch andere Möglichkeiten, der Überbevölkerung Herr zu werden, als Kriege zu führen, aus reiner Gewohnheit, weil man es immer schon so gemacht hatte, wenn auch mit anderen Mitteln.
Aber was war es schon für ein Unterschied, wenn auch die Massenvernichtungsmittel immer effektiver wurden, so waren doch die Beweggründe immer die gleichen, immer von gleicher Intensivität, immer von gleicher Primitivität. Nein man konnte nicht behaupten, der Mensch habe seine nahe Verwandtschaft zu den Primaten überwunden. Obwohl, wenn man bedachte, wie weit entwickelt wahrscheinlich das Sozialverhalten primitiver Kulturen war, konnte man einen Rückfall der Menschheit in die Barbarei nicht verbergen.
Was war der Mensch nur für eine Kreatur geworden? Denn was konnte er besser, als vernichten und zwar gründlich. Wer konnte so vermessen sein, zu glauben, dass irgendeine andere Kreatur in der Lage war, in völliger Selbstlosigkeit, sich selbst und seine Umwelt zu zerstören, ohne zu irgendeinem anderen Pseudoargument fähig zu sein, als einem entschiedenen:
"Ich musste es tun"!
Dieses ich musste es tun, dieses ständige Verkriechen hin zu diesem Wort, mit dem man alles rechtfertigen konnte, je unsinniger desto besser - Sachzwänge! Das war das Zauberwort, mit dem man alles rechtfertigen konnte, mit dem man alles begründen konnte, bei dessen Gebrauch alle wissend nickten, um sich in ihr Schicksal zu fügen,
dessen Fadenscheinigkeit nicht zu überbieten war und dessen Magie im Stande war, die Menschen durch seinen Gebrauch des Denkens zu entledigen.
Alle diese Gedankengänge brauchten nur den Bruchteil einer Sekunde durch meine Gehirnwindungen zu huschen und mir klarzumachen, dass es für die Worte des Sprechers im Radio nur eine stichhaltige Erklärung geben konnte, ja geben musste, immer vorausgesetzt ich konnte dem Sprecher von Radio terra futura glauben, aber ich hatte ja kaum die Möglichkeit seine Angaben nachzuprüfen, konnte sie nur in diesem kleinen Dorf, in dem ich mich aufhielt bestätigt sehen.
Für alles was geschehen war, gleichgültig was geschehen war, konnte es nur eine Ursache geben, menschliche Ignoranz und Selbstüberschätzung, Selbstüberschätzung im kleinen-und großen Rahmen, denn es gab einen Unterschied, ob man sich nur selbst überschätzte, oder die ganze Menschheit, oder seine Gruppe, um soziologisch zu werden.
Würde es jemals einen Weg geben, herauszufinden, was geschehen war?
Wie viele Menschen hatten überlebt?
Vielleicht auch welche, die für den Untergang der Mensch verantwortlich waren? Würden sie sich zu erkennen geben?
Würde man sie erkennen können?
Würden sie zugeben was sie getan hatten?
Würden sie mich überzeugen können und wollen, dass ihr Handeln richtig und enorm edel war, dass sie es tun mussten, dass eben die Sachzwänge dahinter standen?
Wie viele Menschen würde ich finden, die das Ende, dieser Menschheit überlebt hatten?
Würden sie mich erfreut begrüßen?





*




DER BOTSCHAFTER

Der Regisseur gähnte, legte die Zeitschrift beiseite, wartete einige lange Sekunden und sagte dann laut und vernehmlich.
"Cut!"

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete bis der Kameramann die neue Einstellung vorgenommen hatte, es war ein sehr guter Kameramann.
Routinegemäß und weil man es von seiner Person aufgrund ihres Ranges bei der Videodrama erwartete, stand er auf und warf einen angemessen langen Blick auf die Einstellungen der Videokamera, denn er kam war ein Mann der alten Schule und alle wussten, dass er sich nicht daran gewöhnen konnte, einen Blick auf den Bildschirm zu werfen, der gereicht hätte, der Kameramann; der bereitwillig Platz gemacht hatte grinst während der Regisseur zu seinem Platz zurückkehrte.
Auf einem Bildschirm vor seinem Sessel konnte er sehen, dass Veronika von der Maske letzte Hand an den Kardinal legte.
Als Veronika fertig war und ihr Werk zufrieden betrachte, bemühte sich der Kardinal sein Kameragesicht zurechtzustilen, indem er seine langerprobte Mimik im Spiegel überprüfte, was sicher genau so überflüssig war, wie der Blick des Regisseurs durch den Sucher der Kamera.
Der Regisseur ließ ihm die nötige Zeit, während er daran dachte, wie einfach es gewesen wäre, dem Wunsche des Kardinals zu entsprechen und ihm einen männlichen Maskenbildner zur Verfügung zu stellen, aber auch Regisseure hatten ihre Prinzipien.
Der Regisseur beugte sich in seinem Sessel nach vorn, der auf der Rückenlehne die obligatorische Aufschrift Regie trug, entspannte sich, und begann zu arbeiten.
"Kamera ab!"
"Kamera läuft!"
"Ton ab!"
"Ton läuft!"
"Klappe!"
"Bischof nah, die erste!"
KLapp!
"Action!"
Der Regisseur lehnte sich in seinem Sessel zurück und guckte in den Spiegel, den er zuvor weggelegt hatte, alle außer dem Bischof wussten, dass er innerhalb des Spiegels die neueste Ausgabe des Playboy las.
,,Und, liebe Brüder und Schwestern, wenn ich im Zusammenhang mit Aids von einer Heimsuchung Gottes rede, werden wir bald wissen, dass diese Heimsuchung nur mit den sieben Plagen zu vergleichen ist die Gott nach Ägypten schickte, um das Volk Israel zu befreien."
Israel.
Die Kunstpause bewirkte, dass der Regisseur von seinem Playboy aufsah und fast "cut" gebrüllt hätte, aber er war zu sehr Profi und wartete, bis der Kardinal wieder redete, um sich den Witzen zuzuwenden.
"Diese Heimsuchung Gottes hat das Ziel, unsere Gemeinschaft der Gläubigen zu befreien, zu befreien von den Anfechtungen der Fleischeslust, der Unzucht mit Verhütungsmitteln, der Götzenverehrung in der übertriebenen Körperlichkeit. Wir werden die Erde befreien, von den falschen Göttern des Mammons und der Völlerei. Der Herr sagt, kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Ich aber als Botschafter des Herrn rufe allen Kranken zu, bereuet eure Verfehlungen, der Herr ist nahe.
wahrlich ich sage..."
"Cut! Cut! Cut!"
Der Regisseur hatte seinen Playboy zur Seite gelegt und war aufgesprungen.
"So eine Scheiße kann sich ja keiner anhören, schafft den Kerl hier raus, ich kann ihn nicht mehr sehen und hören."
Alle Beteiligten waren erstarrt.
Der Regisseur war aber erst richtig in Form gekommen.
"Die NSDAP wurde verboten, aber die Ursache für ihren Vernichtungsfeldzug darf heute noch hetzen. Wer war er, euer Jesus? Nicht zumindest Halbjude? Wenn man zugrundelegt, dass dieser Heilige Geist ein Deutscher war?"
Er holte tief Luft.
"Schafft doch endlich diesen Schwätzer raus! Wann werden diese Scheißkirchen endlich ihre Quittung erhalten, für all die Millionen von Menschen, die sie auf dem Gewissen haben?"





*




Auf geht's

Ich hatte den Transit voll gepackt und hoffte, nichts Wichtiges übersehen zu haben, hoffte nichts in eines der Gebäude zurückgetragen zu haben, was ich schon in wenigen Tagen als eines der wichtigsten Dinge betrachten würde.
Obwohl, es gab da eine Sache, bei der ich mich doch sehr schwer getan hatte, es handelte sich dabei um die Waffen, die ich, gut versteckt, aber doch vor meinem Zugriff nicht sicher, gefunden hatte. Ich hatte sie mit ambivalenten Gefühlen ins Freie gebracht, hatte ich doch nicht vor, die ohnehin schon irrsinnig weit reduzierte Menschheit noch weiter zu dezimieren; zur Jagd würde ich die Waffen ohnehin nicht verwenden können, denn einerseits war ich ein so genannter Fastvegetarier, der sich von ovo-laktovegetabiler Kost ernährte. Und andererseits war ich sicher, genügend Konservendosen finden zu können, um sicher überleben zu können, bis ich eine der größeren Städte erreicht hatte, in denen sicher einige Menschen überlebt hatten, die sich sicher schon jetzt mit der längerfristigen Ernährungsfrage befassten,
Die Schusswaffen hatte ich also zurückgelassen, ich glaubte außerdem, nicht besonders gut mit solchen Gegenständen umgehen zu können. Ich ließ die Waffen zurück, um somit mehr Platz für andere brauchbarere Utensilien zu lassen. Ich hatte zum Beispiel alle verfügbaren Propangasflaschen des Dorfes zusammengetragen, um immer heißes Wasser für Tee zu haben. Es ist mir klar, dass mich aufgrund des Zurücklassens der Waffen einige Leute für überspannt halten werden, aber man könnte mich heute als Gelegenheitspazifisten bezeichnen.
Ebenso wird man für überspannt halten, dass ich im Zusammenhang mit den Propangasflaschen zuerst an Tee gedacht habe, ich sehe keinen Grund meine Handlungsweise und Gedankengänge zu rechtfertigen.
Gut, wenn ich also in der Lage gewesen war, die gut versteckten Waffen zu finden, wie war es dann mit den Pornos, denn immerhin befand man sich ja in einem puritanisch-islamischen Land!
Ich habe sie gefunden, besser versteckt, als die Waffen, aber auffindbar.
Ich war zwar einerseits ziemlich sicher, so ziemlich alle brauchbaren Gegenstände geborgen zu haben, denn wie sollte ein zivilisierter Mensch und als solchen sah ich mich...
Sollte ich sicherheitshalber noch einmal durch die Häuser gehen?
Nein, einmal musste ich irgendwann einen definitiven Schlussstrich machen und meinen Aufenthalt in diesem Dorf beenden.
Ich hatte natürlich auch mit dem Gedanken gespielt, mich in diesem Ort einzurichten, von hier aus die Nachbardörfer zu erkunden und alle brauchbaren Lebensmittel aus der Umgebung hierher zu schaffen, um zu warten.
Warten!
Warten auf was?
Warten auf wen?
Auch wenn ich mich dafür immer verachtet hatte, kam ich nun doch zähneknirschend zu der Erkenntnis, dass es im Endeffekt doch nur die Menschen waren, die ich brauchte, die mir fehlten.
Ich brach also auf, weil ich Menschen suchte.
Als ich das Dorf verließ, blickte ich nicht zurück, beachtete auch den Caterpillar nicht, dessen große Batterie ich ausgebaut hatte, um sie für alle Fälle dabeizuhaben, fuhr Richtung Westen, Richtung Küste, um nach Kusadasi zu gelangen, in den Ort, den ich kannte.
Die Straßen waren leer, ich hatte es auch nicht anders erwartet, keine Autos, keine Menschen, nichts.
Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis die Vegetation wieder von diese Straße Besitz ergriffen hatte, stellte mir vor, wie die stark frequentierten Bundesautobahnen Mitteleuropas aussahen dachte unweigerlich ans Slalomfahren, denn irgendwie musste man ja an den Autos vorbeikommen, die einfach stehen geblieben waren, als ihre Fahrer plötzlich gestorben waren. Es war wirklich unglaublich, was für weitere Konsequenzen diese Erkenntnisse nicht nur für mich hatte.
Egal, ob jetzt neunzig oder neunundneunzg Prozent der Menschheit umgekommen war, die Welt war für die Überlebenden anders geworden, in einem Masse anders geworden, wie man es sich nicht vorzustellen vermochte, wie man es sich in seinen kühnsten Fantasien nicht ausmalen konnte. Was für eine Welt würde mich erwarten, da wo es noch Menschen gab?
Ich war noch keine fünf Kilometer gefahren, als ich zu einem anderen Dorf kam. Ich stoppte, während Radio terra futura eine süddeutsche Satire brachte.
„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder - - - - - - - - - -schlagen,
deutsche Sänger dulden keine Zwischenfragen!"
Den Satz musste ich mir merken!
Würde ich überhaupt noch jemanden treffen, dem ich dieses Zitat nennen könnte?
Das heißt, würde ich überhaupt noch jemanden treffen, der meine Sprache verstand?
Voller Aufmerksamkeit fuhr ich mitten durch das Dorf, durch die Straßen und Gassen, indem ich den Ford im zweiten Gang im Leerlauf rollen ließ.
Was war das?
Hinter einem Fenster glaubte ich eine Bewegung wahrgenommen zu haben.
Ich glaubte, etwas gesehen zu haben.
Die Bremse des Transit ließ auch zu wünschen übrig, aber warum sollte man sie in einen besseren Zustand versetzen?
Ich stieg aus und zog gewohnheitsmäßig den Zündschlüssel ab.
Vorsichtig näherte ich mich dem Haus, als mir der Schreck in sämtliche Knochen fuhr.
Ein ohrenbetäubendes menschliches Gekreische, hastige Schritte.
Meine Schrecksekunde war nur von kurzer Dauer und ich raste den Geräuschen folgend hinterher, durch das Haus, auf einen kleinen Innenhof in ein weiteres Haus. Das schrille Gekreische war für mich die einzige Orientierungsmöglichkeit.
Als ich den nicht abbrechenden Schreien folgte, die voller Angst und Verzweiflung ausgestoßen wurden, kam mir gar nicht in den Sinn, dass ich der Auslöser für diese offensichtliche Angst sein musste.
Jedenfalls fand ich sie dann in einem Garten, unter einem Busch kauernd, vor Angst zitternd und nicht mehr in der Lage die Flucht weiterzuführen.
Die Augen der Frau waren vor Angst weit aufgerissen, als mir klar wurde, dass sie mich nicht verstehen würde, dass sie meine Sprachen nicht verstand und dass mein Türkisch nicht reichen konnte, sie zu beruhigen.
Was sollte ich tun?
Zögernd ging ich zurück zum Dolmus und stellte fest, dass sie keine Anstalten machte, mir zu folgen. Vielleicht würde es länger als ein Leben dauern, bis sie die Schrecken der letzten Wochen und Monate vergessen konnte.
Immerhin schien sie alle ihre Angehörigen, Freunde und Bekannten verloren zu haben, sie alle begraben zu haben, betrauert, beweint...
Was sollte man tun, um sie zu beruhigen?
Hätte ich zu ihr gehen können, wenn es keine sprachliche Barriere gegeben hätte?
Vielleicht um ihr zu sagen, was soll's, es ist ja nicht so schlimm, das Leben geht weiter?
Ich tat nichts.
Der Transit sprang zögernd an und brachte mich aus dem Dorf weiter nach Westen. Ob es einen Sinn hatte, immer nach Westen zu fahren?
Im alten Testament entfernte man sich immer von Gott, wenn man nach Osten reiste und in der nun beendeten Atomzeit postulierte Timothy Leary, dass sich die Fortschritte der Menschheit immer nach Westen bewegt haben, dass es immer Gen-Pools waren, die sich nach Westen orientierten und dass eben diese Gen-Pools
die Aufgabe gehabt hatten, einen weiteren Schritt zu wagen, die Auswanderung ins All vorzubereiten.
Space Migration, die ersten beiden Buchstaben für:
S.M.I².L.E.
Jedenfalls fuhr ich nun nach Westen, Richtung Küste, Richtung Kusadasi.
Aus der Space migration würde ja wohl nun nichts mehr werden.
Wie war es dann mit I²?
Intelligence Inserates!
Intelligenzsteigerung?
Konnte die Intelligenz dieser Menschheit, die sich wahrscheinlich, selber ausgerottet hatte, noch gesteigert werden?
Wie war es mit L.E.?
Life Extension?
Lebensverlängerung?
mäßig, bei einer Menschheit, die nichts anderes im Sinn zu haben schien, als immer gefährlichere Waffen zu ihrere Verteidigung zu produzieren.
Aus für smile?
Für S.M.I².L.E.?
Vielleicht nicht, vielleicht würde es eine neue Menschheit geben, die nicht so verrückt sein würde, wie die erste oder die welche auch immer.
In Gedanken versunken hatte ich den Transit über die Straße fahren lassen und musste nun dem Jeep ausweichen, der mir auf meiner Straßenseite entgegen kam.
Der Fahrer hupte und hatte auch allen Grund dazu.
Wenn ich mich richtig erinnerte, musste ich auch nicht gerade weit genug rechts gefahren sein.
Ein Jeep?
Ein fahrendes Auto?
Ich sah in den Spiegel.
Tatsächlich!
Der Jeep, es handelte sich um einen militärbraunen, hatte angehalten.
Mein rechter Fuß näherte sich zögerlich der Bremse.
Menschen.
Menschen, die keine Angst vor mir zu haben schienen.
Ein Mann sprang auf der rechten Seite aus dem Wagen, er trug einen Stab in der Hand, den er schwang und in meine Richtung hielt.
Ein Blitz am Ende des Stabes.
Scheiße, Soldaten, die immer noch Krieg spielen müssen!
Dann hörte ich den Knall.
Gas geben!
Lahme Scheißkiste!
Der Jeep folgte.
Der uniformierte Irre stand im Wagen und ballerte was das Zeug hielt.
Je mehr er ballerte, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit eines Zufallstreffers, denn Zielen konnte er ja ohnehin nicht, bei der Schaukelei des Fahrens.
Da hatte sich die Menschheit bis auf einen verschwindend kleinen Rest reduziert und da kamen dann Verrückte her und versuchten andere Überlebende umzubringen, versuchten mich umzubringen, der ich so harmlos war, wie kaum ein zweiter.
Was sonst konnten diese beiden bezwecken wollen, wenn sie hinter mir herfuhren und ungezielt auf mich schossen?
Der Jeep war schneller als der Ford!
Das einzige, was ihn bislang auf Abstand hielt, waren die geringen Fahrkünste des Soldaten, der vor jeder Kurve einen richtigen Bammel hatte. Ich hatte keine Angst vor Kurven, weil es sicher besser war, einen Crash mit offenem Ende zu bauen, als von irgendwelchen Haderlumpen abgeknallt zu werden.
Was für eine Angst ich ausstand, angesichts dieser massiven Bedrohung, war kaum auszudenken, obwohl meine Angst langsam einer neuen Erkenntnis wich.
Ich war auf mich gestellt, konnte nicht darauf hoffen, dass mir jemand half, konnte nicht mit irgendwelchen staatlichen - überflüssigen - Organen rechnen, die für Ruhe und Ordnung sorgten, sondern war selber für meine Sicherheit verantwortlich.
Selber für meine Sicherheit verantwortlich!
Die nächste Erkenntnis ließ mich innerlich zusammenfahren.
Es würde mich niemand hinterher zur Rechenschaft ziehen können, wenn ich mein Leben nun selbst verteidigte.
Anarchie!
ANARCHIE!
Ich bog bewusst auf einen holprigen Feldweg ab, denn irgendwie musste ich mir diese Mordbuben vom Leibe halten.
Wer glaubt, auf einem holprigen Feldweg wäre der Jeep im Vorteil gewesen, der irrt sich gewaltig. Der glücklicherweise glücklose Schütze im Jeep musste sich noch mehr darauf konzentrieren, dass er nicht vom Wagen stürzte und der Fahrer hatte alle Hände voll zu tun, den Jeep am Umkippen zu hindern.
Er musste das Tempo reduzieren.
Ich hatte nun auch größere Probleme zu bewältigen. Immer stärkere und heftigere Stöße kamen durch, die sorgsam verstauten Gegenstände machten sich selbständig und flogen mir zum Teil um die Ohren und ich befürchtete jeden Augenblick einen Achsbruch, hörte ich doch neben dem allgemeinen Lärm noch unheilverkündende Geräusche von der Hinterachse.
Ich spielte schon mit dem Gedanken, meine Gefährt bewusst vom Wege abkommen zu lassen und da der Transit meinen Verfolgern die Sicht versperrte auf einen Baum zuzufahren und im letztmöglichen Augenblick auszuweichen, konnte aber nicht verhindern, dass ich wie der Teufel das Letzte und wirklich das Letzte aus dem Dolmus herausholte.
Befriedigt stellte ich fest, dass sich der Abstand nicht mehr weiter verringerte, was bedeutete, dass der Jeepfahrer mit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, als ich, denn immerhin wurde er mehr durchgeschüttelt, als ich und musste härtere Stöße erdulden.
Warum gab er nicht auf?
Ich umrundete einen Felsen, nachdem ich den Abstand zum Verfolger grob geschätzt hatte und bog nach rechts ab, um einen flachen Kreis zu fahren.
In meinem Bewusstsein spulten Galeeren herum, die gerudert wurden.
"Entermannschaft bereit machen!"
Ich hatte Glück!
Ich war auf den Felsen zugefahren, hinter dem der Jeep kommen musste. Bevor der Fahrer richtig bemerkte, was geschah, fuhr ich neben ihm um ihn abzudrängen.
Zumindest für den Jeep erwies sich der Olivenbaum als Hindernis.
Als ich anhielt, spürte ich, dass meine Adrenalisausschüttungen immer noch nicht beendet waren; ich atmete tief durch, was allerdings auch nicht den gewünschten Erfolg brachte.
Sekunden saß ich starr hinter dem Lenkrad, zu keiner Bewegung fähig, bis ich wieder so klar denken konnte, dass ich die Tür des Fort öffnete und mich herausrollen ließ.
Vorsichtig, ich hatte den Eindruck gewonnen, dass man in diesen Zeiten nicht vorsichtig genug sein konnte, robbte ich, einen großen Bogen machend, auf den Jeep zu. Ja, ich robbte, obwohl es mir gelungen war, den ständigen Einladungen der Bundeswehr standzuhalten; man muss ja nicht unbedingt bei der Bundeswehr gewesen sein, um sich auf robbende Weise fortbewegen zu können.
Zumindest der Jeep würde wohl nicht mehr zu gebrauchen sein, aber was war mit seinen Insassen geschehen?
Ich wurde noch vorsichtiger und begann, jede mögliche Deckung nutzend, so flach wie möglich über den Boden in der Deckung des Grases näher an den gegnerischen Wagen zu kommen.
Immerhin hatten diese Irren vor ihrem tragische Unfall versucht, mich umzubringen, was für ein Grund mochte sie zu diesem Handeln bewogen haben?
Der Fahrer war hinter dem Lenkrad eingeklemmt, für ihn kam jede Hilfe zu spät, denn immerhin waren seit dem Aufprall zumindest drei Minuten vergangen.
Wo war der Andere?
Den Anblick des eigentlichen Aufpralls hatte ich verpasst, ich hatte genug zu tun, den Transit unbeschadet zum Stehen zu bringen.
Wo war der zweite Mordbube?
Entweder,er hatte den Aufprall unbeschadet überstanden, aber dann hätte er schon kurz vorher abspringen müssen und wäre dabei unweigerlich gegen meinen Wagen geprallt, oder die Wucht des Aufpralls hatte ihn aus dem Wagen geschleudert, wobei er eine gute Chance gebabt hatte, den Olivenbaum zu treffen, was allerdings nicht der Fall war.
Also musste er rechts am Baum vorbei, in Fahrtrichtung des Transit herausgeschleudert worden sein, was ihm wahrscheinlich einige Verletzungen eingehandelt hatte.
Aber dann hätte ich nur wenige Meter an ihm vorbeirobben müssen, was mir sogar im Nachhinein noch heiß und kalt den Rücken entlangrann.
Na, ja, er schien ja doch erheblich verletzt worden zu sein, sonst hätte er sich ja schon bemerkbar gemacht, entweder durch mehr oder weniger lautes Stöhnen oder durch einen erneuten Angriff auf mich.
Also hatte ich allen Grund das unbequeme Robben aufzugeben.
Elastisch sprang ich auf die Füße, was mir das Leben rettete.
An der Stelle, an der sich vor Sekundenbruchteilen noch mein Körper befunden hatte, steckte nun das Bajonett des Soldaten im Boden.
Entweder hatte er seine Munition verschossen, als er wie ein Irrer hinter mir hergeballert hatte, oder das Gewehr war bei dem Unfall zu Bruch gegangen.
Ich wirbelte herum.
Er war dabei, das Gewehr aus dem Boden zu zerren, als mein Fuß ihn im Bauch traf. Ich war zwar niemals Fußballspieler gewesen, aber in einer solchen Situation konnte man auch von den Füßen Gebrauch machen, ja musste es tun, um zu überleben.
Ich schlug mit allem zu, was mir an Körperkraft zur Verfügung stand, aber es reichte nicht, der Kerl bewegte sich noch als er am Boden lag.
Auf dem Rücken liegend griff er nach einer Pistole, die ihm offensichtlich erst in diesem Moment in den Sinn gekommen war.
Ich riss das Gewehr mit einem Ruck an mich und stieß es in seinen Körper.
Ich muss allerdings zu meiner Verteidigung anführen, dass ich nur einmal zustieß, was ja auch seine Wirkung tat.
Was hätte ich tun sollen?
So sehr ich auch überlegte, mir fiel keine sichere Alternative ein.
Selbstverständlich belastete es mich, dass es mir bislang nicht gelungen war zu einem Überlebenden Kontakt aufzunehmen, obwohl ich mich ziemlich unschuldig fühlte. Was hätte ich machen können als diese hysterische Frau fast vor Angst ein weiteres Opfer geworden wäre?
Wie hätte ich mich den beiden Haderlumpen gegenüber verhalten sollen?
Ich wusste es nicht.
Wieder stand ich alleine da und hatte es mit zwei Leichen zu tun, wobei ich in diesem Falle allerdings für deren Ableben verantwortlich war.
Das war also Anarchie!
Es gab keine Bullen mit Reizgas und Wasserwerfern, es gab keine Finanzämter mit kleinkarierten Beamten, es gab keine Fußballbesäufnisse, keine korrupten Politiker, keine Industrieellen die sich Politiker, Arbeiter und Beamte hielten, nein, es gab nur noch die anderen und mich.
Irgendwie fühlte ich mich befreit, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese neue Gesellschaft, so negativ meine Erfahrungen auch waren, eine ehrlichere, berechenbarere sein konnte, wenn es gelang zu verhindern, dass sich wieder einseitige Machtstrukturen etablierten.
Ich weiß, dass man keinem übel nehmen kann, diese Gedankengänge für befremdlich
zu halten, angesichts einer erheblich reduzierten Menschheit, die ich soeben noch weiter reduziert hatte, stand ich doch noch zwischen den Leichen.
Warum hatten sie mich angegriffen?
Warum konnten sie nicht erkennen, dass die Restmenschheit zusammenhalten musste, um einen neuen Anfang zu realisieren?
Zusammen!
Anarchie hieß?
Was wäre wenn?
Was wäre wenn es uns gelingen würde, die DNS von Botulismuserregern, zur Gruppe der Chlostridien gehörenden Bazillen, also Sporenbildnern, in ganz normale schnell mutierende Grippeviren zu transmutieren?
Was wäre wenn?
Hätten wir dann nicht einen biologischen Kampfstoff, der in seiner Virulenz unübertroffen wäre?
Hätten wir dann nicht einen biologischen Kampfstoff, dessen epidemische Virulenz erst durch die unübertroffene Letalitätshäufigkeit des Botulins zum tragen käme?
Merke, dreißig Gramm Botulin reichen aus, um die ganze Menschheit zu töten; es gibt kein toxischeres natürliches Toxin!
Was wäre wenn?
Was wäre wenn es uns gelingen würde, unsere Bevölkerung früh genug zu impfen?
Vielleicht könnte es uns gelingen, einen großen Prozentsatz unserer eigenen Bevölkerung zu impfen!
Wir hätten selbstverständlich die Möglichkeit, diejenigen auszusondern, die einer solchen Impfung nicht würdig wären.
Eine Impfung nur für Technokraten oder Bürokraten oder überhaupt nur für Monarchisten, Hierarchisten, Patriarchisten, Matriarchisten oder irgendwelche anderen Archen - oder sollte man besser sagen für Leute mit Geld.
Ich glaube es ist doch besser, ich höre hier und jetzt mit diesen Überlegungen auf, angesichts des zuletzt Erlebten.
Das Benzin des Jeeps passte noch in den Tank des Transit.
Ich würde nun wohl eine völlig neue Karriere, als Waffenträger beginnen müssen. War doch das Überleben für mich zu einem zentralen Bestandteil meines Lebens geworden.
Ja, wäre ich in meinem Dorf geblieben, in dem Dorf, das in den letzten Wochen mein Dorf geworden war, aber dann hätte mich die verbleibende Menschheit irgendwann doch eingeholt und ich wäre dann ebenso wenig darauf vorbereitet gewesen, wie zu jedem anderen Zeitpunkt. Nein, ich würde nicht in dieses Dorf Zurückkehren, würde nicht in die trügerische Sicherheit der Abgeschiedenheit flüchten, keinen Rückzug antreten. Irgendwo in dieser verrückt gewordenen Welt musste es doch Menschen geben, die nicht dem allgemeinen Irrsinn verfallen waren. In diesem Zusammenhang von allgemeinem Irrsinn zu reden, könnte man sicher für mehr als übertrieben halten, doch war dieser Ausdruck auch zu schwach, für das was noch kommen sollte.
Bei einem der beiden Toten fand ich eine Handfeuerwaffe und konnte nur hoffen, mit diesem Instrument umgehen zu können oder den Umgang damit zu erlernen.
Hatte ich genug Munition, um zu üben? Würde die Knallerei weitere Haderlumpen auf den Plan rufen?
Der Begriff Haderlumpen schien mir immer mehr zuzusagen.
Als mir einfiel, dass die vorangegangene Knallerei ja auch gehört worden sein konnte, hatte ich es plötzlich richtig eilig, das Hinterachsgeräusch des Dolmus kam mir Plötzlich ganz harmlos vor und der Beachtung nicht wert.
Wohin sollte ich mich wenden?
Zur Küste, obwohl ich da die größere Chance haben würde, Überlebende zu treffen, oder gerade darum!?
In den dichter bevölkerten Gegenden mussten einfach mehr Leute überlebt haben. Oder nicht? Vielleicht waren die Menschen einem bisher unbekannten Krankheitserreger zum Opfer gefallen, was bedeuten konnte, dass gerade in den dichter besiedelten Gebieten kaum jemand überlebt hatte.
Zum ersten Mal seit Wochen überlegte ich was für eine Ursache hinter dieser tödlichen Wirkung stecken mochte, an Quantenmechanik wagte ich gar nicht zu denken.
Radio terra futura dudelte leise vor sich hin, aber ich konnte nicht behaupten, dass mir die Musik Freude bereitete.
Ich schaltete aus, weil ich mir lieber die Geräusche der Achse anhören wollte.
Ich würde wohl schnellstens ein geeigneteres Fahrzeug brauchen, das den kommenden Anforderungen besser gewachsen sein würde.
Spontan dachte ich an einen schnellen BMW, sicherheitshalber mit four-wheel-drive, aber woher nehmen und nicht stehlen?
Ein Königreich für einen schnellen BMW!
Nein, ein schneller BMW wäre in der Türkei nicht gerade einfach zu bekommen, schließlich konnte man ja nicht gerade in München vorbeifahren, wegen erforderlicher Ersatzteile.
Außerdem hatte ich keinen Auslandsschutzbrief des ADAC.
Ein Ford musste es sein, einer mit vielen PS, viel Platz und was weiß ich sonst noch für Extras. Ein Granada Turnier 2,8 i wäre gerade das richtige, aber waren solche Autos in der Türkei verkauft worden?
Sofern ich mich in der Nähe der Küste hielt, würde ich wegen des gut ausgebauten Straßennetzes auf einen ausgesprochenen Geländewagen verzichten können.
Ich hatte, sofern möglich, weitere menschliche Ansiedlungen zu meiden und näherte mich Kusadasi von Süden aus, vielleicht konnte ich in eines der Häuser der Ausländer eindringen, vielleicht gab es da Dinge des täglichen Gebrauchs, die man in den Häusern der Einheimischen vergeblich suchte!
Vor jeder Kurve stieg ich aus, um zu Fuß nachzusehen, was mich dahinter erwartete, eine höchstgradig überflüssige Maßnahme, vorausgesetzt, man hatte das richtige Auto, was man von einem Transit nicht behaupten konnte.
Meine Vorsicht hielt ich nicht für übertrieben, nach den Vorkommnissen, die ich postkatastrophal mit den Haderlumpen hatte.
Ach ja, Haderlumpen!
Wenn man Hader mit Streit und Zwietracht gleichsetzt, oder nur mit Streit, handfestem Streit und einen Menschen, der Streit sucht, ohne einen offensichtlichen Grund, als Lumpen bezeichnet, kann man sehr schnell begreifen, wie sinnvoll das alte Wort anzuwenden war.
Die Ironie des Schicksals sollte auch nicht verborgen bleiben, denn die Leute, die zur Zeit meiner Kindheit, den Begriff geprägt hatten, würden ihn postkatastrophal, wenn sie noch leben wohl auf mich anzuwenden wissen, waren doch lange Haare, Bart und geflickte Jeans schon genug Gründe, jemanden ins gesellschaftspolitische Abseits zu verbannen - klapp, die Schublade ist zu!



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Mail: Udo M. Christian

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